Der Fluch der Abendröte. Roman
einst.«
Er hielt das Schriftstück in verschiedenen Winkeln unter die Glühbirne, um es besser entziffern zu können, doch er hatte damit nicht viel Erfolg. Anstatt noch etwas zu sagen, versank er in Schweigen. Die Stille tat fast in meinen Ohren weh – umso mehr, als Susannas tote, starre Augen immer noch auf uns gerichtet waren. Ich versuchte sie zu ignorieren und stattdessen alles zu tun, um ihre letzte Bitte zu erfüllen – ihren Mann zu finden und ihn in Sicherheit zu bringen. Das wiederum würde mir nicht gelingen, wenn ich mich durch den Anblick ihres Leichnams in Panik versetzen ließ, sondern nur, wenn ich mich auf das Pergament konzentrierte und mir Caspars Worte noch einmal durch den Kopf gehen ließ.
»Strittige Punkte«, murmelte ich. »Du hast mir vorhin gesagt, dass die Alten nicht immer einer Meinung sind. Aber warum eigentlich? Sie haben doch alle das gleiche Ziel – ihre Feinde zu besiegen.«
Jemanden wie dich, fügte ich im Stillen hinzu.
»Du erinnerst dich doch noch, was ich dir über die Hierarchie der Nephilim erzählt habe«, gab Caspar zurück, ohne die Augen vom Pergament zu lassen und es wieder und wieder unter der Glühbirne zu drehen.
»Natürlich. Du hast von diesen drei Sphären gesprochen. Die der Weisen, die der Alten und die der gewöhnlichen Nephilim.«
»Bei den gewöhnlichen Nephilim gibt es besagte Unterschiede, es gibt mächtigere und weniger mächtige, Fürsten, Erznephilim und Mitläufer.«
»Und bei den Alten ist das auch so?«
»Sagen wir so: Mächtig und einflussreich sind sie alle – aber sie haben unterschiedliche Funktionen. Dionysios Aeropagiate unterscheidet die Engel der zweiten Sphäre in Mächte, Kräfte und Gewalten. Und dementsprechend gibt es auch drei Arten von Alten.«
Er ließ das Pergament sinken und sah mich an – auf jene verächtliche Weise wie vorhin schon im Wald, als ich mich in so vieler Hinsicht als völlig unwissend erwiesen hatte. Zugleich lag etwas Gönnerhaftes in seinem Blick, weil einzig er mich belehren konnte.
»Nun sag schon!«, drängte ich ungeduldig. »Welche drei Arten?«
Er zögerte seine Antwort deutlich hinaus.
»In Dionysios’ Engelhierarchie sieht es folgendermaßen aus«, erklärte er endlich. »Die Mächte üben eine Art Befehlsgewalt über die anderen Engel aus. Die Kräfte bestimmen die Naturgesetze. Und die Gewalten sind diejenigen, die gegen die Dämonen kämpfen. Diese Dreiteilung sagt viel, eigentlich fast alles über unsere Alten aus, ganz gleich, ob es die der Schlangensöhne oder die der Wächter sind. Die einen sind so etwas wie die Innenminister: Sie halten die eigenen Leute zusammen, bilden sie aus, kontrollieren sie, sind quasi die Ordnungshüter unter den Nephilim. Die zweite Gruppe gleicht eher einem Kriegsminister oder vielmehr einem Feldherrn: Sie sind für den Krieg verantwortlich – sie planen Kampfhandlungen, beobachten den Feind, dirigieren die Truppen, entwickeln Taktiken. Die dritte Gruppe hingegen agiert am diplomatischsten. Sie ähnelt der UNO . Sie hat weder mit der Ausbildung oder Führung der Nephilim zu tun noch mit den Kampfhandlungen. Stattdessen sorgen sie dafür, dass von Kriegen und Kämpfen der Lauf der Welt nicht gestört wird – sprich, dass die Menschen nichts von den Nephilim erfahren.«
Ein anzügliches Lächeln begleitete seine letzten Worte. Offenbar war er der Meinung, dass diese Schonung nicht notwendig war – sollte das dumme Menschenpack doch mit der steten Bedrohung irgendwie fertig werden.
»Diese dritte Gruppe ist gewiss die friedlichste«, schloss ich aus seinen Ausführungen, »die erste hingegen die strengste und die zweite die aggressivste.«
Er nickte, und ich begriff nun, wie es zu Unstimmigkeiten unter den Alten kommen konnte. Nicht immer war es möglich, all ihre Ziele – der Gehorsam der Nephilim, der Kampf gegen den Feind und die Geheimhaltung vor den Menschen – auf gleiche Weise zu erreichen.
»Wenn sie sich in einer Sache nicht einig sind, dann treffen sie sich zur Ratssitzung und stimmen ab«, fuhr Caspar fort, »und die Minderheit muss sich dem Beschluss der Mehrheit beugen.«
»Was wiederum in einem der Protokolle festgehalten wird.«
»So ist es.« Er hob nun wieder das Pergament. »Wenn wir nur lesen könnten, worum es sich hier handelt …«
»Du hast doch etwas von einem ganz bestimmten Streitfall der Alten angedeutet, als ich bei dir in der Lodge war! Du meintest, dass sich Weiß und Schwarz immer mehr vermischen, schließlich ein
Weitere Kostenlose Bücher