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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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sonst Infusionen hingen, umgefallen. Die Schubladen des Nachttischs waren allesamt herausgerissen worden, als hätte auch hier jemand ungeduldig nach etwas gesucht, und lagen über den ganzen Boden verstreut – ebenso wie ein in Scherben gegangenes Wasserglas, ein Bademantel, die Pantoffeln.
    Den schlimmsten Anblick bot der Rollstuhl: Er war zur Seite gekippt, die Räder hingen nutzlos in der Luft. Vor allem war er leer.
    Wer immer hier die Bücher durchforstet hatte – sein oberstes Ziel war es nicht gewesen,
etwas
zu finden und mitzunehmen, sondern
jemanden
: Samuel Orqual. Er war entführt worden. Genauso wie Aurora und Mia entführt worden waren.
    »Mein Gott!«, rief ich wieder.
    Schlagartig ging mir auf, dass ich mich geirrt hatte.
    Als Samuel Orqual mich vor zwei Tagen voller Angst angesehen hatte und etwas von »holen« gestammelt hatte, hatte er nicht Aurora gemeint. Nicht sie würde »geholt« werden. Sondern er selbst.
    Ja, das war es, was er mir unter großen Mühen hatte sagen wollen:
Sie werden mich holen.
     
    Ich konnte meine Augen nicht von dem umgekippten Rollstuhl lassen, auch dann nicht, als Caspar sich längst abgewandt hatte, um das Haus weiter zu durchsuchen. Ich lehnte mich an den Türrahmen. Warum dieser alte, gelähmte Mann? Wer hatte ein Interesse daran, ihn in seine Gewalt zu bringen?
    Selbst wenn er etwas wusste, was ein anderer geheim halten wollte – er konnte ohnehin nicht reden oder sich bewegen. Er stellte doch keine Gefahr dar!
    »Sophie!«
    Ich zuckte zusammen. Es fiel mir schwer, meinen Blick vom Rollstuhl zu lösen. Zurück im Flur deutete Caspar auf eine Stahltür, die offenbar in einen Keller führte.
    »Ich habe sämtliche Räume durchsucht«, berichtete er, »aber nichts Ungewöhnliches entdeckt … Der Keller fehlt noch.«
    Ich versuchte die Klinke der Kellertür herunterzudrücken, sie aufzuziehen, doch sie war verschlossen.
    »Kannst du …?«, fragte ich knapp.
    Ein überhebliches Lächeln erschien auf Caspars Lippen. Unsere Suche – nach wem oder was auch immer – hatte offenbar genügend Kräfte in ihm geweckt, um ihm wieder das alte Gefühl von Stärke zu verleihen. Doch als er den Fuß hob und damit gegen die Tür trat, schwand das Lächeln augenblicklich. Seine Stärke reichte nicht aus, um die Tür mühelos zu öffnen.
    »Verdammt!«, knurrte er und war sichtlich in seinem Stolz gekränkt. Mir war zwar nicht danach zumute, aber ich musste grinsen, als er mit immer grimmigerem Gesicht die Tür bearbeitete, weitere Male mit dem Fuß dagegenstieß, schließlich mit den Händen darauf einschlug und sich zuletzt mit seinem ganzen Gewicht dagegen warf. Erst nach mehreren vergeblichen Versuchen ertönte endlich ein Knirschen, und die Tür gab nach.
    Langsam begann er die Treppe hinunterzusteigen, die unmittelbar hinter der Tür auf uns wartete. Ich folgte ihm zögernd, tastete nach einem Lichtschalter, doch auch als ich einen gefunden und ihn gedrückt hatte, blieb das Licht trübe. Es gab kein Geländer, weswegen ich mich gegen die Wand presste, als ich Caspar Stufe für Stufe nach unten folgte. Modrige Luft drang in meine Lungen, doch so unheimlich mir dieser Keller auch war – er erweckte zugleich einen Funken Hoffnung in mir.
    Wir gingen geradewegs in einen finsteren, kalten Raum … in ein unterirdisches Gefängnis … vielleicht Auroras Gefängnis.
    Ich beschleunigte meinen Schritt. Die Stufen waren teilweise schief und unterschiedlich hoch. Wenn ich mich nicht an die Wand gepresst hätte, wäre ich längst gestolpert und gefallen. Putz regnete auf mich herab, ich griff in etwas Feuchtes, und das Licht wurde noch diffuser. Nach etwa zehn Stufen drang kein Tageslicht, das von der Kellertür kam, mehr zu uns vor. Die einzige Lichtquelle war nun eine Glühbirne, die von der Decke des Kellerraums baumelte und flackernde Schatten auf die Wände zeichnete.
    Die letzte Stufe war besonders hoch, und als ich endlich meinen Fuß aufsetzte, knickten mir fast die Knie weg. Ein Geräusch hallte von den Wänden wider und ließ mich zusammenzucken, bis ich bemerkte, dass es das Echo meines letzten Schrittes gewesen war. Schutzsuchend verschränkte ich meine Arme über der Brust und konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich nicht einfach nur in einen Keller geraten war, in dem schlimmstenfalls altes Obst verfaulte, sondern in einen Kerker, den man – einmal betreten – nicht so einfach wieder verlassen sollte. Ich zog den Kopf ein, weniger um mich instinktiv vor

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