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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Grau ergeben. Was hast du damit gemeint?«
    Er konzentrierte sich auf das Pergament. »Wie gesagt: Mein Bruder César war zu Besuch und hat mir davon berichtet«, erklärte er lediglich vielsagend. »Er hat sich darüber totgelacht, dass es beim Rat der Alten vor kurzem eine sehr turbulente Sitzung gegeben habe, bei der es zu Schreiduellen und Tumulten gekommen sei.«
    »Und weiter?«
    »Nichts weiter! César hoffte, dass mich das genauso aufheitern würde wie ihn. Aber er steckte mich mit seinem Gelächter leider nicht an.«
    Auch jetzt lachte Caspar nicht, aber er grinste immerhin.
    »Aber was war der Grund für diesen Aufruhr! Du musst mehr wissen, sonst hättest du nicht von diesem Grau geredet, das …«
    »Es hatte etwas mit Gehorsam zu tun«, unterbrach er mich. »Besser gesagt, dem Fehlen von Gehorsam.«
    »Weil einer der Alten sich dem Mehrheitsbeschluss nicht fügen wollte? Weil …«
    »Ha!«, unterbrach mich Caspar erneut und deutete auf eine Stelle auf dem Pergament. »Das hier heißt Claudius!«
    Ich nahm das Schriftstück und hielt es ganz dicht vor meine Augen. Wenn er es mir nicht gesagt hätte, hätte ich den Namen nie entziffern können, doch nachdem er ihn ausgesprochen hatte, glaubte ich, ihn auch zu lesen.
    »Claudius? Wer ist das?«
    Caspar runzelte kaum merklich die Stirn.
    »Mein Vater«, presste er hervor. »Einer der mächtigsten Schlangensöhne überhaupt.«
    Ich erschauderte. Obwohl Cara seinen Namen nie ausgesprochen hatte, hatte sie damals vor fünf Jahren doch manches über ihren Vater angedeutet. Wie grausam er sei, und wie oft er sie gequält habe, weil sie sich geweigert habe, Menschen zu töten. Manchmal hatte er sie selbst dafür bestraft – manchmal hatte er es Caspar tun lassen …
    »Und er hat mit dem Streit zu tun?«, fragte ich eifrig. »Er hat …«
    »Nein«, fiel er mir ins Wort. »Aber ich weiß jetzt, wie man diese Seite lesen muss. Pergament kann man mehrmals verwenden, indem man die Wörter, die darauf geschrieben sind, wieder abkratzt. Vor dem letzten Protokoll, in dem es um den Streit der Alten geht, ist auf diesem Pergament schon einmal früher ein Protokoll aufgeschrieben worden, bei dem es um eine Angelegenheit ging, die meinen Vater betraf. Offenbar ist das Pergament nur schlampig abgekratzt worden, so dass es also zwei Texte gibt, die hier mehr oder weniger übereinanderstehen – und das macht es so schwer, sie zu entziffern. Allerdings ist hier noch ein zweiter Name, den man gut lesen kann …«
    »Ja?«, fragte ich begierig. »Welcher?«
    Er deutete wieder auf eine Stelle. Es war jene, die ich schon vorhin zu lesen versucht hatte. SAR , stand da. Oder nein: Vielmehr Sartael.
    Diesen Namen hatte ich schon einmal gehört.
    »Das ist einer der Namen aus dem Buch Henoch, nicht wahr?«, rief ich aufgeregt.
    »Scheinbar war er bei dem Streit einer der Wortführer«, murmelte Caspar, »er hat die meisten Argumente vorgebracht und die Abstimmung schließlich für sich entschieden. Und dafür gesorgt, dass ein anderer … verflucht wurde.«
    »Verflucht?«, fragte ich.
    »Ein etwas archaisches Ritual. Es stammt aus uralten Zeiten. Jemanden zu verfluchen hieß damals, jemanden aus der Gemeinschaft zu verbannen. Es bedeutet also, dass einer der Alten aus dem Rat ausgeschlossen wird – was bei dieser besagten Abstimmung der Fall war.«
    »Und worüber wurde abgestimmt?«
    »Es ging darum, dass …«
    Caspar verstummte. Die Schatten auf den Wänden tanzten plötzlich noch unruhiger als zuvor. Ein Luftzug hatte die Glühbirne in Bewegung versetzt, schaukelte sie sachte hin und her – ein Luftzug, der von oben kam. Und da waren Schritte zu hören – leise, langsame. Dann ein schleifendes Geräusch, als würde derjenige, der den Flur betreten hatte, seine Füße kaum heben, sondern sie über den Boden ziehen. Dann war dieses Geräusch wieder verschwunden. Caspars Spinnenfinger krampften sich förmlich um das Pergament, doch anders als ich zuckte er nicht zusammen.
    »Wie es aussieht, sind wir nicht länger allein«, flüsterte er.
     
    Mir stockte der Atem – die Schritte kamen näher. Immer noch waren sie sehr langsam. Wer immer dort oben hinter der Kellertür auf und ab ging, versuchte zu schleichen. Warum? Weil er auf die Spuren der Zerstörung gestoßen war und sich nun vor einem unsichtbaren Feind fürchtete? Oder weil er selbst ein Feind war, der sein Opfer überraschen wollte?
    »Wer … wer …«, stammelte ich. Caspar legte seinen Finger auf die

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