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Der Fluch der Abendröte. Roman

Der Fluch der Abendröte. Roman

Titel: Der Fluch der Abendröte. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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Schinken noch Eier.
    Ich schloss die Kühlschranktür wieder, und zeitgleich mit ihrem Quietschen ertönte ein dumpfes Poltern. Ich folgte dem Laut und ging durch das Wohnzimmer hindurch zur Bibliothek. Caspar hatte den Raum vor mir betreten – und hatte bereits das Chaos erblickt: ein Durcheinander an Büchern, die man sämtlich aus den raumhohen Wandschränken aus weißem Lack gezogen und achtlos auf den Boden geworfen hatte. Es gab kaum ein Fleckchen, wo man stehen konnte, ohne auf einen der Bände zu treten.
    »Wie’s scheint, war unser unhöflicher Besucher eine Leseratte!«, stellte Caspar trocken fest. Er hatte eines der Bücher hochgehoben, blätterte darin, ließ es wieder fallen – das war das Poltern gewesen – und griff schon nach dem nächsten.
    »Was tust du denn da?«, rief ich zutiefst schockiert über dieses Chaos.
    »Unser Eindringling hat offenbar etwas gesucht. Ich würde gerne wissen, was.«
    Das schien mir einleuchtend, und ich bückte mich nun auch, um nach einem Buch zu greifen. Als ich es aufschlug, wurde ich prompt von einer Staubwolke eingehüllt. Das Buch war ein naturwissenschaftliches Lexikon aus dem 19. Jahrhundert.
    Eine Weile sichteten wir schweigend einige Bücher, dann hielt ich inne. »Wenn hier wirklich jemand etwas gesucht hat – dann hat er es entweder gefunden und mitgenommen, oder es war nicht da.«
    »Aber das hier ist dennoch sehr interessant!«, rief Caspar triumphierend aus und hielt mir eines der Bücher dicht vors Gesicht. Nur zögerlich nahm ich es entgegen, weil ich nicht wollte, dass meine Hände seine berührten. Auf den ersten Blick glich es mit seinem braunen Ledereinband den anderen Lexika, doch als ich es aufschlug erkannte ich, dass es sich um ein altes Fotoalbum handelte.
    Alle Fotos darin hatten etwas gemeinsam: Sie zeigten Menschen in unterschiedlichen Konstellationen, mal nur zwei, mal vier, mal über ein Dutzend, doch aus jedem einzelnen war das Gesicht eines jungen Mannes herausgeschnitten worden. Man konnte nur seine Statur erkennen, die – so schlank, sehnig und elegant gekleidet, wie sie war – viel mit der von Nathan gemeinsam hatte. Da nicht nur das Gesicht, sondern der gesamte Kopf fehlte, ließ sich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob tatsächlich er auf diesen Fotos zu sehen gewesen war, doch möglich war es durchaus.
    Aber warum sollten die Orquals ein Album mit Fotos von Nathan besitzen? Und warum sollten sie sein Gesicht daraus entfernt haben?
    Mühsam versuchte ich mir in Erinnerung zu rufen, wie Nathan zu den Orquals stand. Manchmal hatten wir über sie geredet – das hieß, ich hatte erzählt, wie begabt Marian beim Klavierspielen war und dass mir Susanna leidtat. Er selbst hatte sich von Marian meist ferngehalten, weil der Junge Angst vor Männern hatte, und ich konnte mich auch nicht erinnern, dass wir jemals gemeinsam bei Susanna Kaffee getrunken hätten.
    »Weißt du, was das bedeutet?«, fragte ich verwirrt.
    Caspar verneinte, während ich im Album weiterblätterte. Die Fotos weiter hinten waren nicht mehr zerstört, zeigten aber auch keinen Mann mehr, sondern ein Kind. Es war etwa ein oder zwei Jahre alt, und es ließ sich nicht genau erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. Die dunklen Haare ließen auf Marian schließen – nur das strahlende Lächeln passte nicht zu dem schüchternen Jungen, den ich kannte. Das Schockerlebnis, das Susanna angedeutet und das ihn hatte verstummen lassen, musste erst später eingetreten sein und ihm diese Offenheit und Fröhlichkeit geraubt haben. Hatte dieser Schock womöglich mit dem Mann zu tun, der Nathan glich und dessen Fotos zerstört worden waren?
    »Hast du dieses Kind schon einmal gesehen? Und hast du …«
    Ich verstummte. Als ich mich umdrehte, merkte ich, dass Caspar einfach verschwunden war.
    Ich stieg über die Bücher hinweg. »Caspar!«, rief ich. Es war irgendwie unheimlich, seinen Name aus meinem Mund zu hören. Es war ein gefürchteter Name. Ein verhasster Name. Und nun hallte er von den Wänden wider, während es ansonsten still blieb.
    »Caspar!« Meine Stimme wurde panischer.
    »Hier bin ich!«, entgegnete er.
    Ich war ihm in den Raum gefolgt, der hinter der Bibliothek lag – das Krankenzimmer, in dem Samuel Orqual untergebracht gewesen war, seitdem er im Rollstuhl saß und das obere Stockwerk nicht mehr bewohnen konnte.
    »Mein Gott!«, stieß ich aus.
    Die hellen, gelben Vorhänge waren von der Stange gerissen worden; der Metallständer, an dem

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