Der Fluch Der Bösen Tat
Leben nicht an seiner Seite gewollt hatte. Ihr Gesicht mit der kunstvollen Haubenfrisur blickte ernst. Sie hatte die langen schmalen Hände vor der Brust zum Gebet gefaltet. Irgendjemand hatte ihr ein gebrauchtes Kaugummi an den rechten Ärmel geklebt. Meredith wünschte, ihr Latein wäre gut genug, um die Inschrift entlang der Basis zu entziffern. Doch Mangel an Bildung und das, was nach weiterer mutwilliger Beschädigung aussah, bedeuteten, dass sie außer
»Hubertus« und
»Agnes uxor sua« nichts entziffern konnte. Selbst die Todesjahre waren ausgelöscht worden. Meredith wandte sich ab, und nachdem sich ihre Augen endlich an das Zwielicht gewöhnt hatten, bemerkte sie, dass sie nicht allein war. Eine Frau kniete im Gebet auf einer Kirchenbank auf der anderen Seite des Mittelgangs, unter der Gedenktafel, die an den Perücken tragenden Sir Rufus erinnerte. Sie hatte den Kopf nach vorn geneigt, und ihre Stirn ruhte auf einem Stapel von Gebetbüchern, der auf der pultartig verbreiterten Rückenlehne der Bank vor ihr lag. Meredith spürte, wie Verlegenheit in ihr aufstieg, weil sie ein so privates Gebet gestört hatte, und begann, auf Zehenspitzen nach draußen zu schleichen. Doch an der Tür zögerte sie und warf einen Blick zurück. Die Frau war so still. Irgendetwas an ihrer Haltung stimmte nicht. Sie hatte die Hände nicht zum Gebet gefaltet; stattdessen baumelten sie schlaff zu beiden Seiten herab. Merediths Nackenhaare richteten sich auf. Hastig wandte sie sich um und ging auf die kauernde Gestalt zu. Sie regte sich immer noch nicht. Dort angekommen, fragte Meredith:
»Ist alles in Ordnung? Fühlen Sie sich nicht wohl?« Keine Regung. Keine Antwort. Die Gestalt rührte sich nicht. Meredith konnte ihr Gesicht nicht erkennen, nur das dicke, ergrauende Haar. Vorsichtig streckte Meredith die Hand nach der Frau aus und berührte sie an der Schulter. Sie spürte etwas Warmes, Klebriges an den Fingern. Erschrocken zog sie die Hand zurück und starrte auf rotes Blut. Meredith beugte sich vor, um das verborgene Gesicht zu sehen, und begegnete dem Blick aus einem glasigen Auge unter einem in halb offener Stellung erstarrten Lid. Übelkeit stieg in Meredith auf, und sie erhob sich hastig. Die Frau hatte einen Schal mit Geranienmuster um den Hals, doch nicht alles Rot stammte von den Geranien. Das seidige Gewebe hatte einen Riss. Blut war in den Schal gesickert und von dort aus in den leichten Pullover. Es bestand nicht der geringste Zweifel, dass sie tot war.
KAPITEL 6
ES WAR NICHT das erste Mal, dass Meredith eine Leiche zu Gesicht bekam. Es war nicht einmal das erste Mal, dass sie das Unglück hatte, über ein Opfer eines gewaltsamen Angriffs zu stolpern. Doch dies machte die Erfahrung weder weniger grausam noch weniger schockierend. In gewisser Hinsicht verstärkte es das Entsetzen sogar eher. Irgendjemand anders mochte vielleicht annehmen, dass die Frau nicht tot war. Meredith wusste, dass das Gegenteil zutraf. Andere mochten sich einreden, dass die Frau irgendeinen bizarren Unfall erlitten hatte. Meredith wusste, dass sie auf ein Mordopfer blickte. Und doch war Unglaube in ihren Reaktionen. Nicht Unglaube angesichts der Realität vor ihren Augen, sondern darüber, dass das launische Schicksal wieder einmal sie ausgesucht hatte, all das erneut durchzumachen. Zumindest, dachte sie, weiß ich, wie ich mich verhalten muss. Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass der Mörder vielleicht immer noch in der Kirche war, dass er sich irgendwo hinter einer der Bänke oder hinter der riesigen viktorianischen Orgel mit ihrem Wald staubiger Pfeifen versteckte. Oder hinter jenem verblassten Brokatvorhang über dem Torbogen, der in die Sakristei führte. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz in der Brust, als sie die Ohren spitzte und nach dem Geräusch des Atmens einer anderen Person lauschte, dem verräterischen Knarren von Holz, während ihre Augen auf die leiseste Bewegung des Vorhangs achteten. Nichts. Sie war allein mit der Toten. Sir Rufus starrte höhnisch auf sie herab, als wollte er sagen, dass so etwas in seiner Zeit niemals zugelassen worden wäre. Sie ging nach draußen, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und rief Alan an. Sie kämpfte darum, ihrer Stimme einen ruhigen, gelassenen Tonfall zu verleihen, und wusste doch, dass sie nicht so klang, sondern abgehackt und unnatürlich schrill. Alan nahm die Neuigkeit gelassen auf. Er war ein Profi. Er hatte all das schon mehr als einmal durchgemacht, und es überraschte
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