Der Fluch der bösen Tat
den Anhöhen über Pale. Um den braunrot beschichteten Tisch standen vier Plastikstühle. Die Tür des kleinen Cafés hing lose in den Angeln. Eine schmuddelige Gardine hing in dem Fenster, das noch eine Scheibe hatte. Das andere war vor längerer Zeit von einer verirrten Kugel zerschmettert worden, als ein paar besoffene Milizsoldaten einen unwichtigen Streit austrugen. Es ging um irgendeine Frau. Ihre Wut war größer gewesen als ihre Treffsicherheit. Vuk trank Sliwowitz. Eine neue schlechte Angewohnheit. Früher war es nie nötig gewesen, die Tage mit Branntwein herumzukriegen, aber jetzt tat es hin und wieder gut. Er war nie betrunken, aber es machte so angenehm gleichgültig. Es ließ die Bilder verschwinden, die ihn gern ohne Vorankündigung heimsuchten. Er hatte länger überlebt als die meisten, und laut Statistik müßte seine Nummer bald auf der Anzeigetafel erscheinen. Außerdem hatte er das Gefühl, daß die Vergangenheit dabei war, ihn einzuholen. Die Taten, die im euphorischen Siegesrausch so bizarr natürlich gewesen waren, verwandelten sich nun in Schreckenserinnerungen, die immer dann auftauchten, wenn man sie am wenigsten erwartete.
Er leerte das kleine Glas in einem Zug. Drinnen hinter der Gardine saß der Wirt. Er sah Fußball auf irgendeinem deutschen Kanal. Die Parabolantenne auf seinem heruntergekommenen Café funktionierte immer noch einwandfrei. Nur sah sie auf den weißen Betonsteinen und dem grauen Dach ziemlich seltsam aus. Vielleicht war sie errichtet worden, als man sich noch Hoffnungen machen durfte, daß sich ein oder zwei Touristen hier oben hin verirren würden. Der letzte Tourist war längst abgehauen. Vuk füllte erneut sein Glas. Die Sonne stand tief über den grünen Berghängen, und es duftete nach Spätsommer. Dieser Duft ließ ihn immer an seinen Vater und die kleine Katarina denken, aber das wollte er nicht. Pale und weiter unten Sarajewo lagen unter einem Dunstschleier begraben. Es herrschte Ruhe dort unten. Zweifellos neigte sich der Krieg seinem Ende zu, und das Ende war nicht gut. Er wußte, viele andere würden es nicht akzeptieren, aber sie hatten verloren. Auf jeden Fall die erste Runde. Alles weitere würde man sehen, wenn ein weiterer Winter ins Land gegangen war. Es würde nicht lange dauern, bevor die Kühle kam und dann die Kälte weiß von denselben Hängen atmete, die nun in einem goldenen Licht badeten, in dem die Insekten umherschwirrten.
Vuk hörte das Auto, ehe er es sah. Vuks Hand glitt zu der Kalaschnikow zu seinen Füßen, aber dann umfaßte sie wieder das Branntweinglas. Es war der alte Mercedes des Kommandanten. Er erkannte das schwere Motorengeräusch und den schnarrenden Ton der Hinterachse.
Der Kommandant war nicht allein. Er war in Begleitung eines Mannes mittleren Alters. Er trug einen gut sitzenden dunklen Anzug mit weißem Hemd und Krawatte und schwarze Schuhe. Der Kommandant hatte seine übliche grüne Uniform an, mit der Pistole am Gürtel. Für Vuk war er immer eine jüngere Ausgabe Fidel Castros gewesen. El jefe. Das war er ja auch. Vuk wußte, daß er ein Vaterersatz war, aber was machte das schon? Der Kommandant hatte ihm alles beigebracht, was man auf der besten Militärschule der Welt lernen konnte: der Spezialschule des Jugoslawischen Bundesheeres, auf der die zähesten jungen Männer in Sabotage, Infiltration, Schießen aus dem Hinterhalt, Kommunikation, Selbstverteidigung, Unterwasserschwimmen und Überleben im Feld trainiert wurden. Es war Titos ureigene Idee: Einheiten auszubilden, die imstande waren, wie Guerillagruppen zu operieren, wenn die Scheißrussen versuchen sollten, was die Deutschen nicht geschafft hatten. Statt dessen hatte der Kommandant seine teure Ausbildung und seine besten Schüler gegen die verräterischen Muslims und die faschistischen Kroaten einsetzen müssen. Daß dies einmal nötig sein würde, hätte sich Tito wahrscheinlich nicht träumen lassen.
»Noch zwei Gläser«, sagte Vuk.
Der Cafébesitzer schaute auf, und Vuk streckte zwei Finger in die Luft. Der Besitzer brachte zwei Gläser und stellte sie wortlos auf den Tisch.
Der Kommandant und der Mann im Anzug standen an dem großen, schmutzigen Mercedes, der am Fuße des kleinen Hügels parkte, und sprachen miteinander. Zum Café führte eine Treppe mit etlichen verwitterten Steinstufen hinauf. Vuk sah Radovan, der aus dem Wagen stieg und sich eine Zigarette anzündete. Die beiden winkten sich zu. Radovan fungierte als Chauffeur und Leibwächter, obwohl
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