Der Fluch der bösen Tat
ein paar Sekunden stehen und betrachtete die Menschenmenge, bevor er den Koffer aufnahm und die paar hundert Meter zu seinem Hotel ging. Der Koffer war ziemlich leicht. Als er die Zimmertür hinter sich abgeschlossen hatte, öffnete er ihn mit dem Schlüssel aus dem Umschlag. Er enthielt das Vereinbarte: den dänischen Paß, den britischen Paß, den englischen Führerschein und eine in London ausgestellte Eurocard sowie Geldbündel von je 2000 dänischen Kronen, die aus Hundert- und Fünfhundert-Kronen-Scheinen bestanden. Vuk packte ein paar der Bündel aus. Es stimmte alles. Krawtschow war ein Profi. Ganz offensichtlich konnte er weiterhin seine Kontakte aus alten Zeiten bemühen, als der KGB in ganz Ost- und Mitteleuropa operierte. Die rasche Verbreitung der russischen Mafia und ihre Fähigkeit zu handeln waren ihrem engen Kontakt zum Geheim- und Parteiapparat der ehemaligen Regime zu verdanken. Das Netzwerk der alten Kumpels funktionierte noch immer, diskret, aber einflußreich.
Die Pässe waren relativ neu, sahen aber normal gebraucht aus. Er unterschrieb sie mit zwei verschiedenen Handschriften. Krawtschow hatte ein paar vertrauenerweckende Namen gefunden. Carsten Petersen im dänischen und John Thatcher im britischen Paß. Vielleicht hatte Krawtschow nach wie vor Zugang zu den Fälschungsabteilungen in Moskau, oder er war vorausschauend genug gewesen, beim Zusammenbruch des Systems einen Stapel Pässe mitgehen zu lassen. Oder hatte die russische Mafia einen derart großen Einfluß, daß sie im neuen russischen Geheimdienstapparat Dienstleistungen einfach anfordern konnte? Vuk wußte, daß die Pässe allemal ausreichten, um innerhalb der EU zu reisen. Die Flughafencomputer waren immer ein Problem, aber er hatte ohnehin nicht vorgehabt, nach Dänemark das Flugzeug zu nehmen. Krawtschow hatte versprochen, daß die Papiere sauber waren, und Vuk mußte ihm vertrauen. So wie die Grenzen innerhalb der EU heutzutage waren, rechnete er nur mit einer oberflächlichen Kontrolle. Mit allzu vielen unbekannten Karten mochte er nicht spielen, aber er hatte nichts dagegen, ein wohlüberlegtes Risiko einzugehen.
Vuk steckte seinen Rucksack in Krawtschows Koffer und ging zum Bahnhof Zoo zurück. Unterwegs warf er den Koffer in einen Abfallcontainer, der an einem Bauplatz stand. Er studierte sorgfältig den Fahrplan und kaufte für den nächsten Vormittag eine einfache Fahrkarte zweiter Klasse nach Hamburg. Im Fernsehen guckte er sich ein Fußballspiel an und lief dann seine zehn Kilometer im Tiergarten. Dann duschte er und ging essen, wie gewöhnlich ein Steak mit einer Ofenkartoffel. Dazu trank er fast eine ganze Flasche Wein. Heute nacht wollte er schlafen. Als er ins Hotel zurückkam, packte er seine alte Kleidung, die Lederjacke, die Joggingschuhe und den Großteil des Geldes in seinen neu gekauften Koffer. Dann setzte er sich in den Sessel und sah CNN, bis die Nachrichtenströme und die immergleichen Werbespots vor seinen Augen verschwammen und er spürte, daß ihn der Schlaf übermannte.
Vuk erwachte ausgeruht am nächsten Morgen. Er fühlte sich fit und unverwundbar, aber die Sicherheit sollte darunter nicht leiden. Er machte fünfundzwanzig schnelle Liegestütze, dann ging er ins Bad und zog sich das helle Hemd mit dem rotblauen Schlips und dem dunkelblauen Anzug an. Er schlüpfte in ein Paar neuer schwarzer Schnürschuhe und nahm den Koffer. Er bezahlte bar in DM und dankte auf englisch für einen angenehmen Aufenthalt. Er hatte noch genug deutsches Geld für die letzten Ausgaben, so daß er weder die Dollars noch die dänischen Kronen eintauschen mußte.
Er lief den Ku’damm hinunter bis zum Bahnhof, wo er in einem Café mit der Herald Tribune und einer Tasse Kaffee auf die Abfahrt des Zuges wartete.
Die Hauptverkehrszeit war so gut wie überstanden, als der Zug Berlin langsam verließ und in Richtung Hamburg fuhr. Vuk saß allein in einem Abteil und schaute auf die flache norddeutsche Landschaft. Überall waren Baukräne, und als sie die Autobahn erreichten, sah er einen dichten Strom von Autos in beide Richtungen. Vor seinen Augen schmolz die alte DDR wie Schnee in der Sonne. In einigen Jahren stünde die Mauer nur noch im Bewußtsein der Leute, während alle anderen Spuren des geteilten Deutschlands getilgt wären. »Wir sind ein Volk«, hatten sie 1989 gerufen. Wie die meisten hatte Vuk damals, als die Regime zusammenbrachen und das Volk die Fossilien vor die Tür warf, eine fast unbegreifliche Euphorie
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