Der Fluch der bösen Tat
gekleidet und wohlgenährt. Das Land strotzte vor Gesundheit und Überfluß. Den ganzen Weg bis Århus sog er die Landschaft und die ruhigen dänischen Stimmen in sich auf. Ihm war, als legte er die Balkankappe ab, um statt dessen eine dänische Identität anzunehmen. Das fiel ihm so leicht, daß er einen Augenblick lang zweifelte, wer er eigentlich war und warum er zurückreiste. Als er um 17 Uhr 28 in Århus ankam, war er wie alle anderen.
10
LISE CARLSEN ertappte sich wiederholt dabei, und doch konnte sie nicht anders, als Per zu betrachten, der lässig auf einer Tischkante saß und so verdammt präsent war. Er sagte nicht sonderlich viel, sondern ließ seine Chefin das Wort führen. Per war das vorläufige Programm durchgegangen. Er hatte sachlich und ohne große Umschweife berichtet, wie sie sich die Pressekonferenz vorstellten und daß sie noch immer nach einem sicheren Übernachtungsort suchten. Er wirkte souverän auf eine Art, die sie aus ihrer Branche nicht kannte, wo man seinen Wert durch Ozeane von Wörtern unter Beweis stellte. Per dagegen benutzte nur wenige Worte, sie ließen erkennen, daß er davon überzeugt war, seinen Job gut zu machen, und daß man ihm schon zuhören würde. Brauchte er nichts mehr zu beweisen? War er mit dem zufrieden, was er konnte? War das sein Geheimnis? Per hatte von Gerüchten aus dem Milieu berichtet, daß bezüglich des Objekts ein fester Vertrag eingegangen worden sei. Das hatte Lise überrascht, denn davon hatte er ihr nichts gesagt. Dabei waren sie doch jeden Tag stundenlang zusammen.
Auch Lise hielt sich zurück und ließ Tagesen im Namen der Zeitung und der Presse sprechen. Als Vorsitzende des dänischen PEN hatte sie das Recht, jederzeit zu sprechen und ihre Meinung zu sagen. Sie war zwar noch jung und relativ unerfahren in dem Job, den sie erst vor einem Jahr angetreten hatte, aber sie war eine angesehene Kulturjournalistin und Gesellschaftskritikerin. Und sie hatte in verschiedenen Komitees für verfolgte Autoren und inhaftierte Intellektuelle auf der ganzen Welt mitgearbeitet. Seit fast zehn Jahren war sie Mitglied des PEN. Sie war für die Organisation gereist und sie war gewählt worden, weil sie tüchtig war und die Mehrheit meinte, daß ein Generationswechsel ihnen guttue. Aber sie mußte sich eingestehen, daß sie sich ein wenig unsicher fühlte. Das war sie normalerweise nicht, aber es verwirrte sie, daß sie sich mitten in einer Ehekrise befand. Das war neu für sie. Darüber hinaus hatte sie für eine derart wichtige Sache wie diese noch nie die Verantwortung getragen. Bei der es um Leben und Tod gehen konnte. Außerdem hatte Tagesen das Treffen gewünscht. Irgendwie waren die Machthaber ja nicht daran interessiert, sich mit den Medien anzulegen. Medienstürme konnten sich so plötzlich erheben wie Staubstürme in Texas und über das Land fegen und ein Lebensmittelprodukt im Laufe eines Tages aus den Regalen verbannen oder einen Beamten oder Politiker innerhalb einer Woche vernichten, wenn erst einmal alle nach derselben Melodie tanzten. Wenn erst einmal alle Register gezogen waren, zählten Tatsachen nur noch wenig. Dann wurden die Ereignisse von Gefühlen gesteuert. Ole meinte, die Leute müßten angesichts des Lebens, das sie führten, zu Tode erschreckt sein, wenn sie so leicht zu beeinflussen waren. Die Leute hätten keinen Anker, keinen festen Glauben mehr, und deshalb könnten die Medien sie ohne weiteres beeinflussen und einschüchtern. Sie mochte diese Vorstellung eigentlich nicht, aber so war es wohl.
Sie versuchte sich zu konzentrieren, aber immer wieder kehrten ihre Gedanken zu Per und dann zu Ole zurück. Sie und Ole schienen sich kaum noch zu sehen. Er schlief, wenn sie ging, und war nicht da, wenn sie nach Hause kam. Er kam spät in der Nacht und roch nach Schnaps und kroch wortlos neben sie ins Bett, wo sie mit geschlossenen Augen lag und so tat, als schliefe sie. Es wirkte, als wäre es schon seit Jahren so, dabei kriselte ihre Beziehung eigentlich erst seit ein paar Monaten. Und ihr war nicht recht klar, ob sie schon über dem Abgrund schwebten oder ob noch etwas zu retten war. Oder ob sie oder er überhaupt wünschte, das Porzellan zu kitten. Sie mußten endlich miteinander reden.
Sie konzentrierte sich wieder auf die Sitzung. Der Mann vom Staatsministerium, der sich als Stig Soundso vorgestellt hatte, hatte eine unangenehm schneidende Stimme. Er war so ein richtiger kleiner, ambitiöser Dr. rer. pol.-Typ in ihrem Alter, der schon
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