Der Fluch der bösen Tat
gepackt. Er war noch ganz jung und hatte wie andere junge Leute den Zusammenbruch als gerechte Strafe für die alten Männer empfunden. Die Regime stürzten wie Kartenhäuser ein, ohne Widerstand. Er verstand noch immer nicht, warum die Machthaber kampflos aufgegeben haben. Sie hatten die Macht gewaltsam ergriffen, mit Terror und Unterdrückung bewahrt, aber freiwillig abgegeben. Wieso? Er wußte es nicht, und er verstand es nicht. Er hatte geglaubt, es sei ein Neuanfang. Aber dieser Glaube hatte nicht lange gehalten. »Wir sind ein Volk«, hatten sie im Osten gerufen. Das sind wir auch, sagten sie schnell im Westen, als der Zusammenbruch anfing, dem Geldbeutel des reichen Westeuropa weh zu tun, das doch auf Kosten der andern Seite wohlhabend geworden war. Das Volk hatte die Revolution erschaffen. Die neuen Mächtigen hatten sie rasch entwendet.
Die Deutsche Bahn war pünktlich abgefahren und kam pünktlich in Hamburg an. Dort kaufte Vuk wiederum in bar eine einfache Fahrkarte nach Århus mit dem neuen deutschen InterRegio. Vor der Abfahrt um 12 Uhr 30 schaffte er es noch, ein Würstchen zu essen und ein paar deutsche Zeitungen zu kaufen. Es war mitten in der Woche, so daß nur wenige Reisende im Zug saßen. Ein deutscher Geschäftsmann und ein dänisches Pärchen, das leise miteinander sprach. Eine schöne Frau mit ihrem großen Sohn, dessen Walkman so laut eingestellt war, daß die Musik zischelnd durch den Wagen hallte. Sie bat ihn auf dänisch, auf seine Ohren achtzugeben und leiser zu drehen. Er gehorchte murrend. Vuk hatte die Zeitung vor sich aufgeschlagen und lauschte dem Tonfall der dänischen Sprache. Der deutsche Schaffner kontrollierte seine Fahrkarte, ohne ihn näher anzusehen. Vuk bedankte sich auf deutsch und legte die Zeitung beiseite. Die norddeutsche Tiefebene glitt vorüber. Die Häuser waren gut erhalten, die Felder abgeerntet und der Himmel über den dichten Wäldern im Hintergrund war hoch. Er hatte das erwartungsvolle Gefühl, auf einer Urlaubsreise zu sein. Das Gefühl einer Normalität, die er seit langem hinter sich gelassen hatte. Fühlte er auch ein gewisses umgekehrtes Heimweh? Er näherte sich zwar nicht seinem Vaterland, aber es war doch ein Land, das er einmal mit Selbstverständlichkeit sein Zuhause genannt hatte. Sein gemütliches Zuhause. Die dänischen Wörter rollten fremd und doch bekannt in seinem Kopf.
Sie näherten sich der Grenze. Der Zug hielt in Pattburg und setzte sich wieder in Bewegung. Der dänische Grenzbeamte ging durch den Zug. Vuk sah durch den Zuggang, daß er meist nur einen einzigen Blick auf die grünen deutschen und roten dänischen Pässe warf, nur einmal schaute er ein wenig gründlicher darauf. Jetzt hatte er Vuk erreicht.
»Den Paß, bitte«, sagte er auf deutsch.
»Guten Tag. Na, sehr viel geguckt wird ja heute nicht«, antwortete Vuk auf dänisch. Sein Dänisch war ohne Akzent. Er reichte dem Paßkontrolleur seinen Rote-Bete-farbenen Paß mit dem Namen Carsten Petersen. Der Beamte öffnete den Paß, schloß ihn gleich wieder und gab ihn zurück.
»Ja. Das wird zur Zeit mal so, mal so gehandhabt«, sagte er. Er hatte einen jütischen Dialekt. »Ich wünsche einen fortgesetzt guten Tag.«
»Vielen Dank«, sagte Vuk und wunderte sich ein wenig über den Ausdruck. Einen fortgesetzt guten Tag. Das hatte man früher nicht gesagt. Hörte sich wie eine Übersetzung aus dem Englischen an. Das Dänische schluckte fremde Wörter und Wendungen und machte sie zu seinen eigenen wie wenige andere Sprachen, die Vuk kannte.
Der Zug rollte durch Jütland. Das Land sah aus wie erwartet. Von der Sonne beschienen und unschuldig lag es unter einem hohen Himmel und lächelte Vuk zu, der sich in seinem Sitz zurücklehnte. Die Autos waren neu, die Häuser größer und die Gärten gepflegter, als er es in Erinnerung hatte. Aber vielleicht hing es damit zusammen, daß sein eigenes Land aus Ruinen und Flüchtlingsströmen bestand. Der Kontrast war groß, gerade weil er den Eindruck hatte, daß es in der dänischen Landschaft keine Kontraste gab. Es gab nur unzählige Nuancen, die einem Dänen wie große Unterschiede erschienen, für einen Ausländer aber wie ein Musikstück waren, das ständig das gleiche Thema spielte. Der Zug hielt an den meisten Stationen, und im stillen sprach er die Namen mit: Røde Kro, Vojens, Kolding, Fredericia, Vejle. Die Dänen waren ganz die alten. In Jeans, die sie Cowboyhosen nannten, und praktischen Jacken. Die wenigen Kinder waren gut
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