Der Fluch der bösen Tat
gekleideten jungen Mann keines Blickes. Sie sahen sich nur nach einem jungen Mädchen in verschlissenen, durchlöcherten Jeans und einer schmutzigen Jeansjacke um. Sie trug einen speerähnlichen Schmuck im Ohr und einen Ring in Nase und Lippe. Ihr Haar war rot und grün gefärbt. Trotz aller Selbstverstümmelung war es ein schönes Mädchen, Vuk wunderte sich, wie man sich freiwillig solche Schmerzen zufügen konnte. Ein übergewichtiger Mann mit weißem Nikolausbart saß, wie dicke Männer es zu tun pflegen, mit gespreizten Beinen auf einer Bank und betrachtete die Vorübergehenden. Sein fetter Bauch ruhte auf seinen Schenkeln. Es roch nach Essen und Staub, aber Vuk spürte keine Gefahr.
Er ging ruhig zur Treppe, über der ein Schild hing, auf dem Reventlowsgade, Garderobe, Schließfächer stand. Er ging hinunter und bog nach links. Die Wände waren grau und zementartig. Vuk ging eine weitere Treppe hinunter. Er sah in den Gang mit den Schließfächern. Hier herrschte ein lebhaftes Treiben vor allem junger Menschen. Mit Rucksäcken und kleinerem Gepäck. Hinter einer Doppeltür standen auf beiden Seiten die Garderobenschränke. Über den grauen Spinden waren Nummern angebracht. Vuk blieb vor der Nummer 2022 stehen. Es gab hier keine Aufsicht, aber Vuk bemerkte die Kameras, die den Raum überwachten. Daß die meisten Schränke besetzt waren, sah Vuk an den roten Fensterchen, die die Spinde hatten und die grün wurden, wenn man sie leerte. Er steckte sein Ticket in den Schlitz des nächststehenden Automaten, der die modernen Schränke steuerte. Er merkte, wie sein Puls schneller ging, als er so schutzlos mit freiem Rücken dastand, aber er spürte kein Frösteln in der Wirbelsäule, was ihn sonst schon so oft vor einer Gefahr gewarnt hatte. Hinter ihm waren die Geräusch klar und deutlich zu vernehmen, als stünde die Zeit einen Moment still, die Maschine verschluckte das Ticket. Er hörte sie einen kurzen Augenblick arbeiten, dann öffnete sich sein Schrank mit einem leisen Klicken. Er nahm einen grauen verschlossenen Samsonite-Koffer heraus und ging, ohne sich umzusehen, den Gang entlang, zuerst an einem Schalter vorbei, dann an einem Fahrradgeschäft und dann die Treppe hinauf, die zur Reventlowsgade sowie den Gleisen 1 bis 12 führte.
In normalem Tempo ging er mit dem Koffer in der Hand zum S-Bahn-Gleis hinunter, stempelte einmal ab und nahm den erstbesten Zug, der gerade einfuhr. An der nächsten Station stieg er aus, wartete einen Moment und blickte die Wagenreihe hoch und runter, ehe er genau in dem Augenblick wieder einstieg, als sich die Türen zu schließen begannen. Alles wirkte normal. Keine Panik auf dem Bahnsteig. Keiner, der fieberhaft versuchte, über Sprechfunk oder Handy einen Kontakt aufzunehmen. Er fuhr noch zwei Haltestellen weiter, dann nahm er ein Taxi zum Hotel. Normalerweise vermied er Taxis und zog Busse und S-Bahnen vor. Taxifahrer sind in der Regel aufmerksam und wachen Sinnes und haben ein besseres Gedächtnis als die meisten anderen Menschen.
Im Hotel schloß er sorgfältig die Tür ab, ehe er den Koffer öffnete. Darin lag alles, worum er gebeten hatte: eine Dragunow-Büchse mit Zielfernrohr und eine Pistole Beretta 92 F samt Munition für beide Waffen, die gut geölt und neu wirkten. Die Büchse war in drei Teile zerlegt. Er schraubte sie zusammen, während im Hintergrund in gedämpftem Ton CNN lief. Bei der Arbeit mit den vertrauten Waffen empfand er eine tiefe Ruhe. Er wußte, daß er mit der langläufigen Büchse, die sowjetische Waffentechniker unter dem Namen SWD entwickelt hatten, bis auf eine Entfernung von achthundert Metern mit großer Genauigkeit treffen konnte. Sie hatte einen verhältnismäßig kurzen Schaft, und ihr Magazin faßte zehn Schuß. Vuk hatte in seiner Karriere mit vielen Waffen geübt und viele benutzt. Die SWD war vielleicht nicht das raffinierteste Gewehr der Welt, aber Vuk fand sie zuverlässig, angenehm zu handhaben und treffsicher.
Jetzt fehlten ihm nur noch Zeit und Ort, aber die würde ihm sein neuer Agent Ole mit oder ohne Absicht beschaffen, da war er sicher. Während er arbeitete, dachte er an Emma. Er wollte ihr von seinem Aufenthaltsort aus schreiben, sobald die Aufgabe überstanden war, und sie fragen, ob sie mit ihm ein neues Leben beginnen wolle. Er dachte immer mehr an Australien. Es war nicht nur ein neues Land, es war ein neuer Kontinent. Dort gab es alle Möglichkeiten, von vorn anzufangen. Mit Europa war er fertig. Europa war dabei, sich
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