Der Fluch der bösen Tat
kalt, als wäre die Temperatur um etliche Grade gefallen, und der Platz mit seinen Menschen und Tauben verschwamm vor seinen Augen, der Boden schaukelte wie ein Schiffsdeck, die Würstchenwagen schwankten, ihn schwindelte, sein Herz schlug unregelmäßig, und er bekam Angst.
»Ist Ihnen nicht gut?« hörte er eine Stimme aus der Ferne. »Setzen Sie sich lieber ein bißchen hin. Dahinten ist eine Bank.«
Er spürte eine Hand an seinem Ellbogen. Der Rathausplatz hörte auf zu schaukeln. Eine jüngere Frau hielt ihn am Arm. An der anderen Hand hatte sie einen kleinen Jungen. Der Kleine sah Vuk, auf dessen fahlem Gesicht kalter Schweiß stand, betreten an.
»Es geht schon besser. Danke. Danke«, sagte Vuk.
»Sie haben ausgesehen, als wollten Sie in Ohnmacht fallen.«
»Mir war auch ein bißchen übel, aber jetzt ist es okay. Vielen Dank.«
Sie ließ seinen Arm los und sah ihn ein wenig verlegen an.
»Es ist nur …«, sagte sie.
»Alles in Ordnung. Vielleicht habe ich etwas Falsches gegessen. Danke für die Hilfe.«
Sie lächelte.
»Okay. Na, dann gehen wir mal wieder«, sagte sie und wollte mit dem Kind weitergehen, das Vuk mit der unbefangenen Aufmerksamkeit anschaute, die nur Kinder fertigbringen. Auch die Mutter sah Vuk wieder an.
»Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« fragte sie.
Vuk hatte das gleiche Gefühl. Er kannte sie. Sie war ein paar Jahre älter als er und die große Schwester eines Klassenkameraden. Sie hieß Jytte.
»Ich glaube nicht. Es sei denn, Sie sind aus Århus«, sagte Vuk.
Die Frau lachte.
»Das bin ich bestimmt nicht!«
»Aber ich.«
»Na, dann viel Spaß noch in Kopenhagen … Ich dachte nur.«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Vuk etwas grober als geplant, und er konnte ihr ansehen, daß sie es merkte.
»Na, dann woll’n wir mal«, sagte sie und ging mit dem Kind davon. Vuk sah ihnen nach. Sie drehte sich noch einmal nach ihm um. Er hob die Hand und winkte. Er wollte, daß sie die Begegnung schnell vergaß. Daß sie nicht zu lange darüber nachdachte, sondern es als banale, alltägliche Episode betrachtete. Er wollte und konnte sie nicht aus dem Weg schaffen. Das Risiko mußte er eingehen. Vielleicht hielt ihn auch das Kind davon ab, ihr nachzugehen. Vielleicht war es auch einfach die Stadt, die ihn langsam veränderte.
Vuk faßte sich wieder. Die Wirklichkeit kehrte zurück. Auf dem Haus der Industrie hoben sich klar und deutlich die Werbetafeln ab. Das Redaktionsgebäude der Politiken stand an seiner üblichen Ecke, die Würstchenwagen waren an Ort und Stelle, und Hans Christian Andersen saß wie immer auf seinem Sockel und blickte melancholisch in die Luft. Rasch ging Vuk zum Hauptbahnhof und versuchte unerwünschte Gedanken fernzuhalten, indem er an Emma und ihre hoffentlich bald gemeinsame Zukunft dachte.
Im Hauptbahnhof kaufte er eine Sammelkarte und das Ekstra Bladet und setzte sich auf eine Bank, von wo aus er die Leute beobachten konnte. In der Bahnhofshalle herrschte reger Betrieb. Alles wirkte normal. Er konnte keine verdächtigen Gestalten entdecken. Von seiner Bank konnte er die Treppe im Auge behalten, die zur Gepäckaufbewahrung hinunterführte. Sie lag am hintersten Ende der Halle mit einem Ausgang zur Reventlowsgade. Vom Bahnhof bis zu seinem Hotel war es nicht weit. Menschen aller Altersstufen brachten Taschen, Rucksäcke, Einkaufsbeutel und Koffer zur Aufbewahrung oder holten sie ab, und Vuk konnte niemanden entdecken, der wie er das Geschehen beobachtete.
Er stand auf und schlenderte ein wenig durch die Halle, aber auch jetzt hatte er nicht den Eindruck, daß etwas nicht stimmte. In den neuen Geschäften drängelten sich die Kunden, die Cafés waren voller Gäste. Er trank eine Cola und aß einen Hamburger bei McDonalds und ging wieder ein wenig auf und ab. Ein gutgekleideter Herr mit vier langstieligen Rosen trat aus einem Blumenladen. Eine Kindergartengruppe hatte eine Ecke gefunden, wo sie artig wartete. An einer anderen Stelle hatte sich eine Schulklasse um ihren Lehrer geschart. Er verließ sich bedingungslos auf seine Intuition, und wenn er den Eindruck gehabt hätte, daß irgend etwas nicht stimmte, wenn irgendein Detail verkehrt gewesen wäre, hätte er den Bahnhof sofort verlassen und wäre nicht wiedergekommen. Dann mußten sie eben versuchen, ihm die Ware auf anderem Wege zu liefern.
Noch einmal machte Vuk seinen Rundgang durch die Halle. Zwei uniformierte Beamte gingen langsam an ihm vorbei, aber sie würdigten den ordentlich
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