Der Fluch der Finca
lediglich geschlafen. Die Erinnerung an das
Geschehen war noch vollkommen präsent und dennoch begann sie bereits, alles
wieder zu rationalisieren.
Ich bin eingeschlafen und hatte einen bösen Traum. Jetzt ist alles wieder gut.
Michelle war nur allzu bereit, das zu glauben, doch ein anderer Teil von ihr wollte sich
nicht einlullen lassen.
Ach, alles ist in Ordnung, ja? Und der Anrufbeantworter ist wohl von selbst runtergefallen,
was?
Das war nicht von der Hand zu weisen. Die Trümmer des Apparates lagen immer noch
auf den Steinfliesen und sprachen eine deutliche Sprache. Wer schläft, zerstört keine
Einrichtungsgegenstände.
Und nebenbei bemerkt: Die Terrassentür hast du sicher auch nicht schlafwandelnd verschlossen.
Diese
innere Stimme war entnervend überzeugend. Michelle versuchte zwar, sich an
die Traumvariante zu klammern, verlor jedoch zusehends den Glauben daran.
Jetzt war alles friedlich. Keine Stimmen, keine Schatten hinter dem Vorhang und keine
wild gewordenen Feuerzeuge. Nur gab es leider keine Garantie dafür, dass das so bleiben
würde.
Ich verbringe keine weitere Nacht in diesem Haus,
schwor sie sich. Die Tage schienen
sicher zu sein, aber in der Nacht änderte die Finca eindeutig ihren Charakter. Was tagsüber
einladend, hell und freundlich war, wurde nach Einbruch der Dunkelheit bedrohlich
und böse. Gleich morgen würde sie Juanita anrufen. Michelle wusste zwar noch nicht,
was sie ihr erzählen sollte, doch wenn überhaupt jemand ihr dabei helfen konnte, für die
Nächte eine andere Bleibe auf der Insel zu finden, dann war sie es. Keith wollte sie
nicht fragen. Er hätte ihr zweifellos seine Wohnung angeboten und sie hatte keine Lust,
irgendwelche Ausflüchte erfinden zu müssen, um dieses Angebot abzulehnen.
Den Rest der Nacht hielt sie sich wach. Sie kochte sich Kaffee und saß, bewaffnet mit
einem Besenstiel, in der Küche und behielt das Fenster im Auge. Alle fünf Minuten
stand sie auf und patrouillierte durch das ganze Haus. Wer wusste schon, ob die
Gestalt, die draußen lauerte, es nicht vielleicht durch ein anderes Fenster versuchen
würde?
Als es hell wurde, fiel ein Lichtstrahl durch eine Lücke im Vorhang direkt auf Michelles
Gesicht. Sie blinzelte und kniff die Augen zusammen.
Sie war also doch eingeschlafen. Trotz all der Anspannung, der Angst und einer ganzen
Kanne Kaffee war sie doch tatsächlich eingeschlafen. Den Besenstiel hielt sie immer
noch umklammert. Sie mochte geschlafen haben, aber entspannt hatte sie sich im
Schlaf nicht. Dementsprechend gerädert fühlte sie sich jetzt.
Vom Stuhl aufzustehen, war fast unmöglich, weil ihre Beine eingeschlafen waren. Nach
einigen Minuten und ein paar Positionsveränderungen schaffte sie es dann doch noch,
sich zu erheben. Sie ging zum Küchenfenster und zog den Vorhang beiseite.
Der Tag war wunderschön und sonnig. Nichts deutete dort draußen auf eine Gefahr hin.
Angesichts des idyllischen Bildes, das sich ihr bot, begann schon wieder etwas in ihr, an
den Ereignissen der letzten Nacht zu zweifeln. Konnte es nicht doch sein, dass sie einfach
nur hysterisch geworden war? Stimmte vielleicht etwas nicht mit ihrem Kopf? Und
wenn: Wäre das vielleicht ein Wunder?
Sie schlug mit der flachen Hand auf die Fensterbank.
„Ich weiß, was ich gesehen habe und ich spinne nicht!“
Es laut auszusprechen, schien die einzige Möglichkeit zu sein die innere Stimme des
Zweifels zu übertönen. Es funktionierte tatsächlich und sie verstummte.
„Keine Nacht länger verbringe ich hier“, bekräftigte sie ihren Entschluss noch einmal.
Das Telefon war gestern zwar tot, aber Michelle hatte so eine Ahnung, dass sich das
bei Sonnenaufgang wieder geändert haben könnte. Sie ging zum Telefon, hob den
Hörer ab und hörte, wie sie erwartet hatte, ein Freizeichen.
Jetzt kam es auf Juanita an und darauf, ihr nicht zu viel zu erzählen. Das Schlimmste,
was passieren konnte, war, dass ihre Freundin sie für durchgedreht hielt und darauf
bestand, selbst einzufliegen und sie nachts zu beschützen. Wie hätte sie Juanita auch
davon überzeugen sollen, dass sie selbst Schutz nötig haben würde, wenn sie sich entschloss,
die Nacht hier zu verbringen?
Aber Michelle hatte sich bereits eine Geschichte zurechtgelegt, die hoffentlich unverfänglich
genug klang, um Juanita davon zu überzeugen, dass alles in Ordnung war.
Sie wählte Juanitas Handynummer.
„Ja, ich bin es Juanita. Ja es gefällt mir gut hier. Keith? Ja, der
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