Der Fluch der Halblinge
Morgen verändert aufzuwachen – nämlich so, »wie es sich gehörte«, wie Onkelchen Fasin zu sagen pflegte.
»So haben Bogins nicht auszusehen«, dozierte der alte Benimmmeister der jungen Halblinge und zeigte jedes Mal auf Fionn Hellhaar als Beispiel.
Bogins gehörten zu den Kleinen Völkern, aber sie unterschieden sich von den anderen erheblich. Zum einen waren sie größer als die meisten – sie reichten gut an ein menschliches Kind von zehn bis zwölf Jahren heran – und waren leicht an ihrem Aussehen zu erkennen. Eine ins bräunliche neigende Lederhaut, die braunen bis schwarzen Haare waren dick und wollig gelockt und nie in Ordnung zu bringen, und sie besaßen große dunkle Augen. Sie waren von kräftiger Statur und die Männer wiesen eine kräftige Körperbehaarung auf – Füße und Schienbeine, Unterarme, Brust, Schultern und Handrücken. Und sie besaßen rosige Pausbacken.
Das alles hatte Fionn irgendwie nicht vorzuweisen. Seine Erscheinung gab Anlass genug zu Spott, wenngleich es niemand wagte, auch nur eine Silbe in der Nähe von Alana, Fionns Mutter, verlautbaren zu lassen. Im Gegensatz zu seinem sanften Vater, der am liebsten nach getaner Arbeit im Garten saß und Pfeife rauchte, war Fionns Mutter eine resolute, kräftige und große Boginfrau, die selbstbewusst genug war, dass sie dem Herrn die Stirn bot. Sie saß selten still und fand leider auch immer genug, womit sie ihren einzigen Sohn antreiben konnte, nicht nur seinen Vater Hagán. Und alle anderen natürlich auch. Selbst Onkelchen Fasin spurte vor ihr.
Fionn rückte die sorgfältig gebundene Schleife an seinem frisch gestärkten, gestreiften Hemd zurecht, zupfte an den Hosenträgern, zog die leichte Jacke mit den Seidenapplikationen über, die seine Mutter ihm für heute genäht hatte, und seufzte tief.
»An diesem Tag ein solcher Seufzer?«, erklang eine Stimme hinter ihm, und er fuhr zusammen. In der Tür stand sein Herr.
»Oh, Herr, es tut mir leid«, stammelte Fionn und verbeugte sich artig.
»Nun, nun, beruhige dich, Junge.« Meister Ian Wispermund bückte sich und trat ein. Die herrschaftlichen Räume des Hauses besaßen die gewohnte Deckenhöhe, die Unterkünfte der Bogins jedoch waren ihrer Größe angepasst, und auch ihren Bedürfnissen, der Natur nahe zu sein: Alle Fenster gingen in den Garten hinaus, nicht zur Straße.
Fionns Herr war ein respektierter Gelehrter alter Sprachen und der Rechtskunde, der oftmals als Ratgeber an den Hof gerufen wurde. Die Àrdbéana, die Höchstadlige, stellte die Oberste Gerichtsbarkeit aller Völker dar und war die Repräsentantin des Friedens. Ihr Wort war Gesetz, nach dem sich alle Völker richten mussten, von den Elben bis zu den Nachtmahren. Manchmal war es schwierig, ein Urteil zu fällen, und dann wurde nach Meister Ian gerufen.
Er war hochgewachsen und hager, trug zumeist das bis zu den Fußknöcheln reichende Gelehrtengewand und den schwarzen Hut der Weisen, ein etwas unförmiges Ding aus Samt mit einer goldenen Borte und Quaste daran. Haare und Bart waren längst weiß, das Gesicht genauso runzlig wie das von Onkelchen Fasin, der bei ihm am längsten in Dienst stand, und er benötigte zum Lesen Augengläser, die er sich auf den Nasenrücken klemmte. Seine nussbraunen Augen waren die gütigsten, die man sich vorstellen konnte. Stets in tiefschürfenden Gedanken vergraben, war der Meister zumeist sehr zerstreut. Ohne Fionns Mutter würde Meister Ian nicht einmal seinen Kopf finden, wenn er nicht auf dem Hals festgewachsen wäre, pflegte Alana zu sagen. Sobald es allerdings um Sprachen und Rechtskunde ging, war sein scharfer Verstand unerreicht, und dann konnte er sogar energisch werden, wenn man ihm nicht richtig zuhörte.
»Du hast heute Geburtstag«, fuhr Meister Ian fort. »Und ich möchte dir als Erster zu diesem besonderen Tag gratulieren, denn die Doppelzwei ist etwas Wunderbares. Als dein Beschützer bin ich dazu verpflichtet, dir das wichtigste Geschenk zu überreichen.« Der alte Mann lehnte es ab, als »Herr« tituliert zu werden, er sah sich als Schutzpatron seiner Dienerschaft.
Fionns Herz schlug schneller. Andächtig nahm er das Buch entgegen, das sein Herr ihm überreichte; es war in Bullenleder gebunden, mit prachtvoll behauenen Silberbeschlägen und einer großen farbigen Rune auf dem Umschlag. A für die Große Arca , das »umfassende Geheimnis«, eine uralte Philosophie in zweiundzwanzig Sprüchen. Jeder Bogin, der das Volljahr mit zweiundzwanzig Jahren erreichte,
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