Der Fluch der Halblinge
Onkelchen? Kannst du es nicht noch um ein paar Tage verschieben? Ich habe heute die Große Arca geöffnet und viele Fragen.« Genau gesagt, hatte er bis auf den Narrenspruch gar nichts verstanden.
»Es ist dein Leben und dein Schicksal, das du anhand der Sprüche darin wählst«, erwiderte der alte Mann mit der fleischigen Nase und den breiten Lippen. »Ich kann dir da nicht weiterhelfen, Junge. Und es ist ausschließlich dein Geheimnis, das nur du ergründen kannst.«
»Außerdem lässt man die Hohe Frau nicht warten oder schlägt gar einen anderen Termin vor«, erklang eine fremde, kräftige Stimme und erhielt eine Menge Zustimmung dafür.
Fionn sah einen Bogin, der um die Fünfzig sein mochte, kleiner als er, doch kräftiger, und er war ganz und gar dunkel, ohne Zöpfe oder Schmuck im kräftigen Bart, mit einem misstrauischen Blick in den dunkelgrauen Augen.
Er neigte sich zu dem Bogin neben ihm hinüber. »Wer ist das?«, flüsterte er.
»Das ist Tiw«, lautete die Antwort. »Er und sein Herr, Magister Brychan, sollen aus Mathlatha stammen.«
»Was bedeutet das?«
»›Der gütige Tag‹, eine schöne Stadt der Künste und Gelehrtheit. Sie liegt ein paar Tagesreisen entfernt, Richtung Westen. Die beiden sind vor wenigen Stunden erst eingetroffen. Magister Brychan ist ein großer Gelehrter in Geschichte und Völkerkunde, und ich habe gehört, dass die Àrdbéana ihn gebeten hat, an einer Konferenz teilzunehmen. Zusammen mit unserem Herrn und einigen anderen.«
Fionn entschied, dass Tiw der einzige Bogin dieses Tages war, der nicht besonders sympathisch wirkte. Er gab sich düster, geradezu schlecht gelaunt, und schien sich und seinen Meister besonders wichtig zu nehmen. So besonders weit her war es demnach mit der Stadt der schönen Künste wohl nicht, wenn solche überheblichen Leute dort lebten. Oder bildete er sich etwa nichts darauf ein, aus der Ferne zu kommen?
Das Volk der Bogins war nicht groß, und die meisten lebten in Sìthbaile, hatte Onkelchen Fasin zu berichten gewusst. Wenn die da draußen alle so waren wie Tiw, sollten sie ruhig dort bleiben.
Ein leichter Stoß in die Seite riss Fionn aus seinen Gedanken hoch. »Sie sieht dich an.«
»Was? Wie? Wer?«, stammelte er, wenig geistreich und kaum erwachsen. Dann sah er sie.
Sie saß ihm gegenüber, in der Nähe von Onkelchen Fasins Sessel, und lächelte ihm zu. Sie hatte große, schöne Zähne, die sie gern und oft in Verbindung mit einem breiten Lächeln rosenfarbener Lippen zeigte. Ihre hellblauen Augen blitzten wie der erste Tau im Frühling. Und ihre rotbraunen Haare trug sie offen, nur die Stirnhaare auf dem Hinterkopf mit einer Spange zusammengehalten.
Fionn begriff endlich den Sinn seiner Gedanken. Sie lächelte ihm zu .
Lächelte.
Ihm.
Zu.
Voller Schrecken wusste er nicht, was tun, nun, da es endlich geschehen war, wonach er sich schon sehnte, seit er Sechzehn gewesen war. Cady. Sie lebte im Haus nebenan, wo sich der Bruder der verstorbenen Frau des Meisters niedergelassen hatte, und zwischen beiden Häusern gab es einen Durchgang von Hof zu Hof, innerhalb der Umfriedungsmauern zur Straße. Cady würde in einem halben Jahr ihre Zwanzig-Zwei, das Volljahr, feiern, und von ihrem Meister die Große Arca erhalten. Fionn hatte sich schon überlegt, sie heimlich gegen seine auszutauschen, weil seine Ausgabe wirklich einzigartig schön war und Cady Bücher liebte. Nur leihweise, bis das Jahr um war, aber sie hätte sicher mehr Freude daran.
Sie waren immer Freunde gewesen, schließlich waren sie gemeinsam aufgewachsen, doch Fionn wusste noch genau, wann seine Gefühle anfingen, sich neu und auf einer ganz anderen Ebene zu entwickeln. In den vergangenen zehn Jahren hatten sie sich zwar nicht mehr so häufig gesehen, denn die Zeit der Spiele war vorbei, und sie hatten ihre Aufgaben. Aber wenn sie sich trafen, ging Fionns Herz jedes Mal weit auf, und er hörte den fernen Gesang eines Vogels, der in Töne fasste, was er empfand. Nur, es in Worte zu fassen, das konnte er nicht, und so brachte Fionn nie eine Silbe über das heraus, was ihn bewegte.
Er sprang auf. »Wird es nicht Zeit für den Tanz?«, rief er.
Sein Vorschlag wurde sofort begeistert aufgenommen; darauf hatten sie alle schon sehnsüchtig gewartet. Zwischen Essen und Trinken gehörten Musik, Gesang und Tanz, so war das nun einmal. Ein wenig Bewegung, auch das Gehör etwas sättigen – das war genau das Richtige, bevor es wieder an die Genüsse des Gaumens ging. Die
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