Der Fluch der Makaá
mal außer Acht lässt, und so tust, als wäre es ein ganz normales Ei? Was würdest du dann sagen?“
Der Indianer nahm das Ei behutsam in die Hand. Ganz vorsichtig drehte und wendete er es, befühlte die glatte Schale und nahm ihre Struktur und Färbung genauestens in Augenschein. „Es gibt keine Vögel in diesem Teil Venezuelas, die solche Eier legen“, murmelte er schließlich. „Es ist zu groß für einen Singvogel, abgesehen von der unnatürlichen Schwere, und anders als ein Raubvogelei.“
„Aber in einem anderen Teil Venezuelas wüsstest du eine Vogelart?“, fuhr ich dazwischen.
Mateo legte den Kopf schief und verzog das Gesicht. „Nun ja, es könnte sein, dass es… aber nein, das ist völlig unwahrscheinlich… wie sollte ein solches Ei denn überhaupt hierher gelangen?“
„Vielleicht genau auf dieselbe Weise wie das Stück Jaspis in die Höhle des Salto Sapo kam“, entgegnete ich rasch.
Das war ein Argument. Mateo nickte. „Es gibt eine Vogelart im Norden, deren Eier diesem hier ähneln. Es sind keine gewöhnlichen Vögel, sie vertragen kein Sonnenlicht und werden auch Vögel, die aus dem Dunkel kommen , genannt. Die Indianer nennen sie Guácharos, was soviel wie lang gezogenes Wehklagen bedeutet. Und wen wundert es! Wenn zehntausend dieser Tiere am frühen Morgen schreiend von ihrer nächtlichen Nahrungssuche in ihre Höhle zurückkommen, um den Tag in völliger Dunkelheit zu verbringen, dann erzeugt dieses Ereignis ein Gefühl der Beklommenheit. Ich weiß nicht wie ich es beschreiben soll, aber…“
„Stopp, stopp, stopp!”, unterbrach ich seinen Redefluss hastig. „Mateo! Hast du gerade gesagt, die Tiere kehren zu ihrer Höhle zurück?“
Mateo sah mich verdutzt an. „Ja, ja, natürlich, die Guácharos leben in einer Höhle. Ich sagte doch: sie vertragen kein Sonnenlicht. Wieso… wieso guckst du jetzt so?“
Mein Blick hatte sich in der verschleierten Bläue des Himmels verloren, und ich schlug mir gegen die Stirn. „Das ist es! Genau das ist es, versteht ihr? Das meinen die Makaá mit
Nicht auf dem Berg, nicht in dem Tale
Im Urgesteine dieser Welt…
Sie meinen eine Höhle! Und zwar die, in der die Guácharos leben. Mateo, Robert, Oli – das ist unser Ziel! Wo wären geheime Hallen besser aufgehoben, als in einer urzeitlichen Höhle? Mateo – wo ist diese Höhle?“
Der Indianer seufzte. „Wie ich schon sagte, im Norden – in einem anderen Teil Venezuelas, in El Oriente. Wir sind am falschen Ende.“
„Und wie lange werden wir brauchen, um dorthin zu gelangen?“, fragte Robert.
„Zu Fuß? Schätzungsweise zwei bis drei Wochen, aber nur wenn wir wenig Pausen einlegen“, antwortete Mateo und presste die Lippen aufeinander.
„So viel Zeit haben wir nicht.“ Ich sprach aus, was jeder von uns dachte. Das konnte doch nicht wahr sein! Da waren wir so kurz vorm Ziel und nun war alles umsonst! In wenigen Tagen würde der Vollmond rund am Himmel hängen, und was dann? Was würde mit unseren Eltern geschehen, wenn wir sie nicht retten konnten? Und was würde mit uns geschehen? Und dem Fluch der Makaá? Ich war verzweifelt.
„Aber wer sagt denn, dass ihr zu Fuß gehen müsst?“, warf Bley verständnislos ein. „Ich bin schließlich auch noch da, habt ihr das schon wieder vergessen? Wenn wir nun endlich mit dem Gejammer aufhören und uns gleich an den Abstieg machen, dann sind wir morgen Mittag bei meinem Auto. Und die Strecke bis nach El Oriente, die reiß ich in knapp zwei Tagen runter. Also, was sagt ihr?“
Natürlich! Das Auto! Bley war ja mit dem Auto zum Tafelberg gefahren! Wie hatten wir das vergessen können! Ich hätte Bley in diesem Augenblick umarmen können. Es war einmal wieder so: Stets wenn man meint, in einer Sackgasse angekommen zu sein, öffnet sich eine Tür…
Sogleich packten wir unsere Sachen, hüllten das Ei behutsam in ein paar Stoffstücke und verstauten es in Roberts rotem Rucksack.
Der Abstieg erwies sich als recht schwierig. Drei Stunden hatten wir starkes Gefälle, dann folgte ein vier-Stunden-Marsch durch dichtes Gestrüpp in brütender Hitze. Es war Abend, als wir einen Rastplatz erreichten, auf dem wir unser Lager einrichten konnten. Nicht weit entfernt füllte ein kleiner Wassersturz ein natürliches Schwimmbecken, und, obwohl es bereits im Schatten des sich neigenden Tages lag, sprangen wir nur zu gerne hinein, um uns den Schweiß und die Hitze herunterzuwaschen. Von der langen und schweren Wanderung erschöpft, schliefen wir tief
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