Der Fluch der Schriftrollen
verlierst?« Aber sie
tat es nicht. Sie wußte, was er sagen und wie er reagieren würde. Er hätte
keine Erinnerung daran, wie eigenartig er sich verhalten hatte, nachdem er die
Rolle gelesen hatte. Und es wäre auch sinnlos, es ihm erklären zu wollen.
»Ich will noch eine Weile
aufbleiben«, erwiderte sie abweisend. Ben langte herunter und legte seine Hand
auf ihren Kopf. »Weißt du«, begann er mit gedämpfter Stimme, »ich habe dir nie
dafür gedankt, daß du zu mir gezogen bist. Durch deine Anwesenheit erhält die
Sache ein ganz anderes Gesicht.«
Judy blickte nicht zu ihm
auf, rührte sich nicht. Für einen ganz kurzen Augenblick spürte sie, wie er mit
der Hand über ihr Haar strich, dann zog er sie zurück, und sie hörte ihn aus
dem Wohnzimmer gehen und die Schlafzimmertür hinter sich schließen.
Judy blieb noch eine Zeitlang
sitzen, bevor sie schließlich aufstand und zum Fenster hinüberwanderte. Die
Vorhänge waren aufgezogen und ließen die kalte, mitternächtliche Finsternis von
draußen herein, während sich die Lichter aus der Wohnung auf der Fensterscheibe
widerspiegelten. Sie erblickte darin auch ihr eigenes Spiegelbild, ein
trauriger Abklatsch ihres früheren Ich – ein viel zu blasses Gesicht, das vor
Sorge ganz schmal geworden war. Verloren blickte sie mit ausdruckslosen Augen
hinaus auf die schlafende Stadt. Gefühle und jegliches Interesse waren Judy
abhanden gekommen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten sie aller
Sicherheit und Charakterstärke beraubt und sie willenlos gemacht. Denn wie Ben
war Judy letzten Endes auch nur eine Marionette, die von den hier wirkenden
Kräften beliebig gesteuert werden konnte. Aber was waren das nur für Kräfte,
die den Bewohnern dieser ruhigen Wohnung von West Los Angeles so übel
mitspielten? Waren es übernatürliche Mächte, oder waren es nur Energien, die
ihnen beiden innewohnten? Sie preßte ihr Gesicht gegen das kalte Glas. Warum
bin ich hier? fragte sie sich gedankenverloren. Wie kam es eigentlich, daß ich
in Ben Messers private Katastrophe verwickelt wurde? War es vom Schicksal
vorherbestimmt?
Es ist fast, als wären wir
beide hier zusammengebracht worden, um dieses eigenartige Stück durchzuspielen.
Aber warum? Zu welchem Zweck?
Ohne darüber nachzudenken,
drehte Judy sich um und lief durch das Zimmer, wobei sie alle Lichter löschte.
Sie verabscheute das Licht; sie wollte Dunkelheit. Es war leichter, sich in der
Dunkelheit zu verirren, leichter, in der Dunkelheit Vergessen zu finden. Als
sie wieder ans Fenster trat, waren die Spiegelungen verschwunden, und alles,
was sie sehen konnte, waren die skelettartigen Bäume, die die Straße säumten
und sich im Wind bogen. Draußen sah es kalt aus. Kalt und bedrohlich.
Wie kann Wind kalt aussehen?
dachte sie abwesend, ihre Stirn wieder gegen die Scheibe gepreßt. Wie kann man
etwas beurteilen, was unsichtbar ist? Wie kann man Wind betrachten? Es ist wie
mit David Ben Jona. Ich kann ihn nicht sehen, und doch…
Judy wandte sich langsam vom
Fenster und den kahlen Bäumen draußen ab und begann, in die Tiefen der
finsteren Wohnung zu starren. Sie konnte David nicht sehen und wußte doch, daß
er anwesend war. Sie ließ ihre Augen zur Schlafzimmertür schweifen und dort
eine Weile verharren, während sie über den seltsamen Mann nachdachte, der auf
der anderen Seite schlief.
Was für eine unglaubliche
Veränderung hatte Benjamin Messer in diesen letzten drei Wochen durchgemacht!
Was für eine Krise mußte er bewältigen! Und warum? »Liegt es am Judentum?«
fragte sich Judy, während vor ihrem inneren Auge staubige Straßen und Palmen
vorbeizogen. »Oder ist es einfach eine Identitätsfrage?« Oder waren Identität
und Judentum möglicherweise ein und dasselbe? Ein Mensch war einfach ein Jude.
Ob Katholiken wohl genauso empfanden? Oder gab es am Judensein etwas, was sich
von allen anderen Erfahrungen unterschied – wenn man davon ausging, daß
Judentum und Identität so unentwirrbar miteinander verflochten waren? Sie
starrte mit leerem Blick vor sich hin und achtete nicht auf die Bilder von
sonnenverbrannten Straßen und überfüllten Marktplätzen, die ihr rastloser Geist
heraufbeschwor. Sicherlich war Benjamin Messer nicht der einzige wichtige
Faktor in diesem Spiel, obgleich möglicherweise die Hauptfigur. Daneben standen
David Ben Jona, die geduldig leidende Rosa Messer, ihr Ehemann, der als
Rabbiner den Märtyrertod gestorben war. Und schließlich Judy selbst. Ihre
Gedanken
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