Der Fluch der Schriftrollen
konzentrierten sich jetzt auf einen bestimmten Punkt. Statt sich
weiter getrocknete Feigen, geschnürte Sandalen und weiße Gewänder auszumalen,
blickte sie jetzt in ihr tiefstes Inneres. Und was sie dort sah, erschreckte
sie. Als ob sie am Rand eines riesigen, unergründlichen Kraters stünde, fühlte
Judy, wie sie von einem starken Gefühl der Leere überwältigt wurde. Eine
unfaßbare Einsamkeit. Eine kalte Einöde, die sie so entsetzte, daß sie vor
Verzweiflung aufschreien wollte. Der riesige, schwarze Krater, der mit einer
tintenartigen Kälte gefüllt war und sich bis an die Grenzen der
Vorstellungskraft ausdehnte, befand sich im tiefsten Innern ihrer Seele. In
diesem schrecklichen Nichts war alles tot, denn kein Leben konnte hier
gedeihen.
Die dunkle Wohnung, die schwarze
Nacht draußen und die furchterregende Leere in Judys Seele hatten eines
gemeinsam: die Finsternis wurde von keinem Licht erhellt.
Mehr Bilder blitzten vor ihr
auf. Aleppokiefern, die sich gegen einen strahlendblauen Himmel abhoben. Der
Duft nach Narde, der die Luft erfüllte. Die heiße Sonne, die auf staubige
Straßen herunterbrannte.
Sie wandte sich davon ab.
Kehrte dem Zauber des antiken Jerusalem den Rücken. Es wäre schön, dorthin zu
entfliehen, ja, sich nur für einen Moment gehenzulassen und in der Vergangenheit
Zuflucht zu suchen, um der Gegenwart nicht ins Auge sehen zu müssen. So, wie
Ben es tat…
Judy blickte wieder hinüber
zur Schlafzimmertür, und für einen kurzen Augenblick wurde ihr bewußt, daß Ben
ungewöhnlich ruhig war.
Sie riß sich von den Offenbarungen
ihres inneren Ichs und den flüchtigen Einblicken in die Vergangenheit los,
durchquerte den dunklen Raum und öffnete die Schlafzimmertür.
Ben lag völlig bekleidet auf
dem Bett und schlief tief und friedlich. Als Judy behutsam näher trat, konnte sie
den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen, der sie überraschte. Ben lächelte fast
unmerklich und schien sich in einem Zustand vollkommener Ruhe zu befinden. Judy
starrte ihn ungläubig an. Mit Ausnahme der Nacht, in der sie ihm eine
Schlaftablette verabreicht hatte, war es Ben nie vergönnt gewesen, so friedvoll
zu schlafen. Auch hatte sie ihn nie zuvor jemals so gelöst gesehen. Als sie
jetzt auf ihn hinabblickte, begann sie, in diesem Gesichtsausdruck eine tiefere
Bedeutung zu erkennen. Es waren Anzeichen der Kapitulation, der völligen
Aufgabe. Judy hob jäh den Kopf und sah sich im Zimmer um. Irgend etwas stimmte
nicht. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Seltsam beunruhigt verließ Judy
auf leisen Sohlen das Schlafzimmer, schloß sachte die Tür und kehrte zu ihrem
Wachtposten am Fenster zurück. Das Glas an ihrem heißen Gesicht fühlte sich
angenehm kühl an. Sie hätte eigentlich froh darüber sein sollen, daß Ben so gut
schlief. Und doch war sie es nicht. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes
ahnen. Als sie die schweren Wolken am Himmel dahinziehen sah, dachte Judy:
Warum tust du uns das an? Warum bist du hierhergekommen? Und was bist du
eigentlich, David Ben Jona, ein Freund oder ein Feind? Stehst du neben ihm und
wachst über ihn, um ihn zu beschützen, oder wartest du nur auf einen Augenblick
der Schwäche…?
»O Gott!« stieß sie hervor
und hielt sich die Hände vor den Mund. »Was geschieht nur mit mir?«
Judy fuhr herum; versuchte
angestrengt, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.
»Wonach suche ich? Verliere
ich jetzt auch meinen Verstand?« fragte sie sich verstört.
Während sie vor sich hin
starrte, tauchten immer neue Bilder in ihrem Geist auf. Die dunkle Wohnung
wurde plötzlich von strahlender Helligkeit durchflutet, und sie blickte auf
einen grünen Hang, der mit weißen Lilien und roten Anemonen bewachsen war. Sie
sah die Feigen- und Olivenbäume und einen Jungen, der eine kleine Herde Ziegen
hütete.
»O Gott, ich will dir helfen,
Ben«, flüsterte sie heiser. »Ich will dir helfen, weil ich dich liebe, aber ich
weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, wie ich gegen dieses Etwas ankommen soll! Wie
kann ich einen Geist bekämpfen?«
Sie roch Olivenöl, das in
einer Lampe verbrannte, und schmeckte herben Käse auf ihrer Zunge. »Es ist
stärker als ich, Ben. So, wie du am Ende aufgegeben hast, unterliege ich jetzt
ebenfalls…« Tränen rannen an Judys Wange herunter. Sie zitterte am ganzen
Körper. Die große Leere tauchte aus ihrer Seele empor, um die Wärme und das
Leben der antiken Vergangenheit zu verschlingen. Ein Donnerschlag vertrieb das
Phantasiebild. Sie war wieder in
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