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Der Fluch der Schriftrollen

Der Fluch der Schriftrollen

Titel: Der Fluch der Schriftrollen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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schreiben, wenn ich weder Papyrus noch Tinte besaß und auch nichts hatte,
um einen Boten zu bezahlen? Ich suchte nach einer Möglichkeit. Unsere
Wasserbehälter wurden jeden Nachmittag kurz vor Sonnenuntergang aufgefüllt, so
daß Eleasars Frau Ruth genügend Wasser zum Kochen und Waschen hatte. Eines
Tages fiel mir ein, daß ich dieselbe Besorgung auch für eine andere Person
verrichten und mir dabei vielleicht ein kleines Trinkgeld verdienen könnte. Mein
Problem war folgendes: Alle mir zur Verfügung stehende Zeit war dem Studium des
Gesetzes gewidmet. Der übrige Tag war mit Beten, Essen und Schlafen ausgefüllt
– alles unter Eleasars wachsamem Auge. Und so konnte sich eine günstige
Gelegenheit nur am Brunnen ergeben, was eines Tages auch geschah. Als ich
meinen Tonkrug eintauchte und hochzog, beobachtete ich die mühevollen
Anstrengungen einer alten Witwe, die ich schon vorher des öfteren gesehen
hatte. Ich wußte, daß sie eine alleinstehende Frau ohne Angehörige oder Freunde
war, und obgleich sie nicht arm war, konnte sie sich keine Diener leisten. So
trat ich zu ihr hin und sagte ihr dies: »Wenn ich einen Monat lang für Euch
Wasser tragen und Euch damit die Mühsal ersparen würde, würdet Ihr mir dann einen
Schekel bezahlen?«
    Zu meinem großen Erstaunen
nahm die Witwe freudig an. Ihr Rücken schmerzte sie, und ihre Gelenke waren
steif, und dennoch gab es niemanden, der für sie Wasser schöpfte. Und so kamen
wir rasch über ein.
    Ab sofort hatte ich sowohl
die Wasserbehälter meines eigenen Hauses als auch die ihren in derselben Zeit
zu füllen. Denn Rabbi Eleasar hätte es nicht gebilligt, wenn mir für das
Studium des göttlichen Gesetzes auch nur ein Moment verlorengegangen wäre. So
tat ich folgendes: Ich lief doppelt so schnell und trug doppelt soviel Wasser.
In der Zeit, die ich benötigt hatte, um unsere eigenen Wasservorräte
aufzufüllen, füllte ich nun auch die der Witwe auf. Zuerst ermüdete ich rasch,
und meine Muskeln schmerzten furchtbar. Und das Hinken, das mir aus meiner
Kindheit geblieben war, stellte zunächst eine wahre Behinderung dar. Doch
allmählich paßte sich mein Körper den neuen Umständen an, und ich fand die
Arbeit gar nicht mehr so hart.
    Doch schon damals – ich hätte
es nicht für möglich gehalten – hatte Eleasar bereits Verdacht geschöpft.
    Nach einem
Monat bezahlte mir die Witwe nicht einen Schekel, sondern zwei, und als ich
mich an diesem Abend auf meine Matte zum Schlafen niederlegen wollte, fand ich
darauf ein frisches Blatt Papyrus.
    Nach einem weiteren Monat gab
sie mir wieder zwei Schekel, und ich fand ein Schreibrohr auf meinem Lager. Am
Ende des dritten Monats wieder zwei Schekel und ein schwarzer Tintenstein auf
meiner Matte.
    So schrieb ich den Brief bei
Mondschein und übergab ihn am darauffolgenden Nachmittag einem Boten, den ich
schon oft in der Nähe des Brunnens gesehen hatte. An diesem Abend nahm mich
Rabbi Eleasar nach dem Abendessen und nach unseren Gebeten zu einem Gespräch
unter vier Augen beiseite. Es beunruhigte mich, denn er hatte dergleichen noch
nie zuvor getan. Er sprach: »David Ben Jona, hast du den Brief an deinen Vater
heute abgeschickt?« Ich antwortete überrascht: »Ja, Meister.«
    »Dachtest du etwa, ich wüßte
nichts von deinen Plänen? Daß die Witwe mir nichts davon erzählt hätte? Daß ich
die Entwicklung deiner Armmuskeln nicht bemerkt hätte?«
    »Ja, Meister«, gestand ich
schüchtern.
    »Und sage mir, David Ben
Jona, wer hat deiner Meinung nach den Papyrus, das Schreibrohr und die Tinte
auf deine Matte gelegt?« Meine einzige Antwort war: »Seid Ihr böse auf mich,
Rabbi?« Ich glaube, Eleasar war verblüfft. »Böse auf dich? Warum, David Ben
Jona, sollte ich böse auf dich sein, wo du doch der einzige unter all meinen
Schülern bist, der so sehr bemüht war, das heilige fünfte Gebot des Herrn einzuhalten?
Du hast deinen Vater und deine Mutter wohl geehrt.«
    Nun legte Eleasar seine Hände
schwer auf meine Schultern, und ich sah eine tiefe Zuneigung in seinen Augen.
»Und um diese löbliche Tat zu vollbringen«, fuhr er fort, »hast du das Studium
des Gesetzes nicht einen Moment vernachlässigt.«
    Ich schöpfte auch weiterhin
Wasser für die Witwe und versteckte meine Schekel an einem sicheren Ort. Als
wir in unser zweites und drittes Jahr bei Eleasar kamen und vom Schuppen ins
oberste Stockwerk umzogen, erhielten wir jeden Monat ein kleines Taschengeld.
Wir benötigten jetzt neue Sandalen und neue Umhänge

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