Der Fluch der Sphinx
Stollen.
Kemese kroch bereits durch die Öffnung in die vordere Grabkammer, dicht gefolgt von Iramen. Amasis, ein hünenhafter Nubier, hatte große Mühe, seinen fülligen Leib durch den engen Gang zu zwängen, und kam weiter hinten nach. Doch die beiden konnten schon Emenis Schatten grotesk über den Boden und die Wände der Vorkammer tanzen sehen. Kemese nahm den bronzenen Dolch zwischen seine faulen Zähne und kroch, den Kopf voran, aus dem Tunnel in die Grabkammer. Lautlos half er dem nachkommenden Iramen, sich aufzurichten. Die beiden warteten, wagten kaum zu atmen, bis schließlich – begleitet von einem leisen Prasseln von kleinen Steinbrocken – auch Amasis ins Innere des Grabes gelangte. Ihre anfängliche Furcht verwandelte sich rasch in Gier,während sie den unerhörten Schatz begafften, dessen Anblick sich ihren vor Aufregung weit aufgerissenen Augen bot. Noch nie im Leben hatten sie so prunkvolle Gegenstände gesehen, und nun befand sich das alles in ihrer Reichweite. Wie ein Rudel Schakale stürzten sich die drei auf die sorgsam angeordneten Grabbeigaben. Vollgepackte Truhen wurden aufgebrochen und umgekippt. Sie rissen die goldenen Verzierungen von Möbelstücken und Streitwagen.
Als Emeni das erste Geräusch vernahm, setzte sein Herz für einen Augenblick aus. Zunächst glaubte er, ertappt worden zu sein. Dann hörte er die aufgeregten Rufe seiner Begleiter und begriff, was geschah. Ihm schien es wie ein Alptraum.
»Nein, nicht«, schrie er, griff nach der Öllampe und stieg durch das Loch im Gemäuer zurück in die Vorkammer. »Haltet ein, im Namen sämtlicher Götter, haltet ein!« Die drei Räuber hielten für einen Augenblick im Plündern inne. Dann aber packte Kemese seinen Dolch mit dem Griff aus Ochsenbein. Amasis sah die Bewegung und lächelte. Es war ein grausames Lächeln, und der Lichtschein der Öllampe flackerte über seine großen Zähne.
Emeni wollte nach seinem Fäustel fassen, aber Kemese stellte den Fuß darauf. Jetzt packte Amasis zu und umklammerte eisern Emenis linkes Handgelenk, damit die Öllampe nicht ausginge. Die andere Faust schlug er gegen Emenis Schläfe. Danach bemächtigte er sich vollends der Öllampe, während der Steinmetz Emeni zusammenbrach und auf einem Stapel königlicher Leinentücher zusammensackte.
Emeni hatte keine Ahnung, wie lange er bewußtlos gewesen war, doch als er wieder klar denken konnte, kehrte auch der Alptraum wieder zurück. Zuerst hörteer nur gedämpfte Stimmen. Durch den Durchbruch im Gemäuer drang ein schwaches Licht, und als er den Kopf drehte – langsam, damit er nicht so schmerzte –, fiel sein Blick durch die Öffnung in die Grabkammer. Emeni sah Kemeses schattenhaften Umriß zwischen den mit Erdpech bestrichenen Statuen Tutanchamuns kauern. Diese Kerle verletzten die geweihte Stätte, das Heiligtum aller Heiligtümer!
Lautlos bewegte Emeni nacheinander alle seine Gliedmaßen. Sein linker Arm und die Hand waren taub, weil er darauf gelegen hatte, aber davon abgesehen schien er unversehrt. Er mußte Hilfe holen. Er schätzte den Abstand zur Öffnung des Stollens. Es war nicht weit, doch würde es schwierig sein, ohne ein Geräusch dorthin zu gelangen. Emeni zog die Beine an und hockte sich vorsichtig hin; dann wartete er, bis das Pochen in seinem Schädel nachließ. Plötzlich wandte Kemese, in den Händen eine kleine goldene Horus-Statue, sich um. Er sah Emeni und stutzte. Dann sprang er mit einem Aufschrei in die Vorkammer und warf sich auf den noch benommenen Steinmetz.
Ohne auf seine Schmerzen zu achten, kroch Emeni hastig in den Tunnel, schrammte sich Brust und Unterleib an den schartigen Steinen auf. Aber Kemese war schnell und bekam seinen Knöchel zu fassen. Er hielt ihn fest und rief dabei nach Amasis. Emeni wälzte sich im Tunnel auf den Rücken und trat wuchtig mit dem freien Fuß zu, traf Kemese an der Wange. Der eiserne Griff löste sich, und Emeni robbte im Stollen keuchend vorwärts, ohne sich um die zahllosen Schnitt- und Rißwunden, die er sich auf den Kalksteinsplittern zuzog, zu kümmern. Er krabbelte in die trockene Nachtluft und lief zu der an der Straße nach Theben gelegenen Wärterstation der Totenstadt.
Hinter ihm entstand in Tutanchamuns Gruft ein heilloses Durcheinander. Die drei Räuber wußten, daß sie sofort fliehen mußten, falls sie entkommen wollten, obwohl sie erst in einer der zwei Grabkammern waren.
Amasis wankte mit einer schweren Armladung goldener Statuen widerwillig aus dem Grab. Kemese
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