Der Fluch der Sphinx
paar Kerben in den uralten Gipsmörtel schabte. Kleine Steine und Staubkörnchen rieselten ihm auf die Füße. Diese Arbeit verlieh seiner aufgestauten Erregung ein Ventil, und jeder Stoß fiel etwas heftiger als der vorherige aus. Plötzlich durchdrang das Brecheisen den Mörtel, und Carter torkelte gegen die Tür. Aus dem kleinen Loch drang ein warmer Luftstrom; Carter begann mit den Zündhölzern zu hantieren, er zündete eine Kerze an und hielt die Flamme ans Loch. Das war ein primitiver Test, um das Vorhandensein von Sauerstoff festzustellen. Die Kerze brannte weiter.
Niemand wagte zu sprechen, als Carter die Kerze Callender gab und die Arbeit mit dem Brecheisen fortsetzte. Vorsichtig erweiterte er das Loch, sorgte dafür, daß der Mörtel und die herausgebrochenen Steine in den Gang fielen und nicht in den dahinterliegenden Raum. Carter nahm wieder die Kerze zur Hand und hielt sie durch die jetzt größere Öffnung. Sie brannte mit ruhiger Flamme. Dann drückte er sein Gesicht an den Durchbruch, spähte angestrengt in die Dunkelheit.
Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Als sich Carters Augen der Dunkelheit angepaßt hatten,meinte er, um dreitausend Jahre zurückversetzt worden zu sein. Aus der Schwärze tauchte golden das Haupt Amnuts hervor, mit entblößten Zähnen aus Elfenbein. Andere vergoldete Tiergestalten lauerten daneben im Dunkeln, und der Kerzenschein warf ihre fremdartigen Umrisse unstet an die Wand.
»Können Sie etwas sehen?« fragte aufgeregt Carnarvon.
»Ja«, antwortete Carter schließlich, und erstmals konnte man seiner Stimme die Aufregung anmerken »Wunderbare Dinge.« Er tauschte die Kerze gegen die Stablampe aus, und dann konnten auch jene hinter ihm die sagenhaft schönen Gegenstände im Innern der Gruft erkennen. Die goldenen Häupter waren Bestandteile von Grabbeigaben, drei prunkvollen Betten. Carter richtete den Lichtkegel nach links und sah in einer Ecke einen Wirrwarr auf einem mit Gold und Einlegearbeiten verzierten Streitwagen. Er schwenkte das Licht nach rechts und begann sich über das sonderbare Chaos in der Gruft zu wundern. Statt in der vorschriftsmäßigen würdevollen Anordnung aufgebaut zu sein, wirkten alle Gegenstände gedankenlos durcheinandergeworfen. Gleich an der rechten Seite standen zwei lebensgroße Bildnisse Tutanchamuns, jede mit goldenem Schurz, goldenen Sandalen und versehen mit Geißel und Zepter.
Zwischen den beiden Standbildern befand sich eine weitere versiegelte Tür.
Carter verließ die Öffnung, um auch den anderen einen Einblick zu gestatten. Er fühlte sich versucht, den Stein mit den bloßen Händen niederzureißen und in die Gruft zu stürzen, wie Belzoni es getan hatte; doch statt dessen gab er mit ruhiger Stimme bekannt, man werde den Rest des Tages damit zubringen, die verschlossene Tür zu fotografieren. Erst morgen wollten sie die jenseitige Räumlichkeit, anscheinend eine Vorkammer zum eigentlichen Grab, betreten.
27. November 1922
Carter brauchte über drei Stunden, um die Tür zur Vorkammer aufzubrechen. Raman und einige Fellachen standen ihm bei dieser Arbeit tatkräftig zur Seite. Callender hatte eine improvisierte elektrische Leitung verlegt, und der Gang wurde so hell ausgeleuchtet. Als die Türöffnung fast bloßgelegt war, kamen Lord Carnarvon und Lady Evelyn hinzu. Man schaffte noch die letzten Körbe voller Mörtel und Steine hinaus, und dann war der Zeitpunkt gekommen, um die Grabstätte zu betreten. Draußen, vor der Grabstätte, warteten mehrere hundert Reporter von Zeitungen aus der ganzen Welt auf die Möglichkeit der ersten Besichtigung.
Einen kleinen Moment zögerte Carter. Als Wissenschaftler interessierte ihn alles, auch die allerkleinste Einzelheit im Innern der Gruft, als Mensch jedoch war es ihm peinlich, in die ehrwürdige Ruhestätte eines Toten einzudringen. Aber weil er bis ins Mark Brite war, rückte er lediglich den Knoten seiner Krawatte zurecht und überschritt die Schwelle, wobei er seinen Blick auf die Gegenstände auf dem Boden geheftet hatte. Wortlos wies er auf eine schöne, wie eine Lotosblüte geformte Schale aus durchscheinendem Alabaster, damit Carnarvon nicht auf sie trete. Dann begab er sich zu der versiegelten Tür zwischen den beiden lebensgroßen Standbildern Tutanchamuns. Sorgfältig untersuchte er die angebrachten Siegel. Seine Freude schwand, als er bemerkte, daß auch dieseTür von den Grabräubern bereits aufgebrochen und später wieder versiegelt worden war.
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