Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
in die Hölle gelockt, obwohl er da hingehört hätte«, schrie Na Lizier zurück. »Ich hab das Vieh nicht angerührt.«
»Oh, doch, das hast du. Sieh, sieh, es gibt keine Hufabdrücke in der Gasse. Ist er etwa vom Himmel dorthin gefallen? Du hast ihn in die Tiefe gestoßen.«
»Nein, habe ich nicht.«
»Gebenedeite Mutter!«, flüsterte Fabrisse. »Es ist Auguste.«
Adelia hatte mit Auguste bereits Bekanntschaft gemacht, der ziegenbissförmige Riss im Ärmel ihres neuen Hanfkleides bewies es. Der Bock war Na Roquas ganzer Stolz und eine Plage für alle anderen gewesen. Er streunte durchs Dorf, fraß, was er zwischen die Zähne bekam, und kopulierte mit allem, was eine entsprechende Öffnung besaß. (Es war kein Zufall, dass Auguste der Taufname des Bischofs von Carcassonne war.) Das Tier hatte allein deswegen nicht schon früher ein bitteres Ende gefunden, weil das ganze Dorf noch mehr Angst vor Na Roqua als vor ihrem Ziegenbock gehabt hatte.
Es sah tatsächlich wie ein Mord aus. Na Roqua hatte recht, es schien keine Hufabdrücke in der Gasse zu geben. Auguste war ganz sicher nicht an den Platz gelaufen, an dem er jetzt lag. Adelia versuchte ihr Gesicht nicht zu verziehen. »Was für eine Erleichterung«, flüsterte sie zurück. »Ich hatte gedacht, es sei etwas Fürchterliches geschehen.«
Im Gesicht der Gräfin war jedoch keine Spur von Belustigung zu entdecken. Sie was blass. »Aber es
ist
fürchterlich. Damit ist nicht nur das Weihnachtsfest verdorben, das wird auch der Beginn einer Fehde sein, die über Jahre andauern kann.«
»Wegen einer Ziege?«
»Das ist mein Volk, Delia. Ich kenne es, und ich sage Euch, ein Bruch zwischen den Roquas und Liziers …«
Es fing bereits an. Ein Lizier-Enkel unter den Zuschauern machte eine unvorteilhafte Bemerkung über Na Roqua und wurde sogleich von einem ihrer Söhne beschimpft.
»Ihr müsst etwas unternehmen!«, zischte Fabrisse.
»Ich?«
»Ja, ja. Ihr seid die berühmte Ärztin. Ulf sagt, Ihr löst schwierige Rätsel. Löst auch dieses!«
Mit verengten Augen sah Adelia zum Rand der Menge hinüber, wo Ulf mit Mansur, Rankin und Ward stand. Die vier verfolgten interessiert, wie sich der Streit langsam ausweitete.
»Und löst es so, dass niemandem die Schuld gegeben werden kann!«, zischte Fabrisse. Sie trat vor und hob die Stimme zu einer Lautstärke, die durch den anschwellenden Tumult schnitt. »Hört mir zu. So hört mir doch zu!«
Es wurde ruhig. Die verwitwete Gräfin mochte sich in Lumpen kleiden, aber sie war Caronnes Autorität.
Sie packte Adelias Ärmel, hielt ihn wie einen angeschwemmten Fisch in die Höhe und rief: »Hier ist jemand, der dieses Rätsel lösen kann. Diese Dame ist eine Meisterin der Wissenschaft des Todes. Don Patricio hat es mir erklärt. Er sagt, dass die Toten zu ihr sprechen.«
Schweigen. Endlich fragte einer der Roqua-Söhne: »Ihr meint, Auguste wird ihr erzählen, was passiert ist?«
»Ja«, sagte Fabrisse.
»Gott noch mal …«, murmelte Adelia.
»Das ist mir egal«, murmelte Fabrisse zurück.
»Aber ich habe keine Ahnung von Ziegen.«
»Das ist mir egal. Deshalb hat die Jungfrau Euch zu uns geschickt.«
Deshalb also. Es war lächerlich: Na Roqua und ihre Familie waren Katharer, die Liziers Katholiken, und sie konnten trotz ihres unterschiedlichen Glaubens ohne Streit zusammenleben, aber der Tod einer gottverdammten Ziege vermochte eine Vendetta auszulösen. Fabrisse – und wer kannte diese Menschen besser als sie? – war ehrlich besorgt, dass es dazu kam.
Gott, was soll ich nur tun? Ich nehme an, ich schulde es dieser Frau und diesem Dorf, ihnen den Frieden zu erhalten. Irgendwie.
Aber eine Ziege?
Nun, so viel änderte es nicht: Wenn es eine Wahrheit herauszufinden galt, fühlte Adelia sich dazu verpflichtet, ganz gleich, unter welchen Umständen. Der Tod war ihr Geschäft. Zum ersten Mal seit langer Zeit musste sie ihren Beruf wieder ausüben.
Sie machte sich von Fabrisse los, ging hinüber zu Na Roquas Haus und öffnete die niedrige Tür. Ein strenger Ziegengeruch schlug ihr entgegen. (Wenn Auguste nicht auf einem seiner Streifzüge gewesen war, hatte er sich zu seiner Herrin zurückgezogen.)
Die Fensterläden waren gegen die Kälte geschlossen wie in allen Häusern Caronnes. Ihre Bewohner lebten in einem Halbdunkel, das nur von einem Feuer erhellt wurde.
Adelia untersuchte die Türschwelle und öffnete die Fensterläden, um sich den Boden des Raumes ansehen zu können. Sie stieg die Treppe hinauf und
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