Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
abzuwischen.«
Wahrscheinlich war der kleine Graf, der da in seiner Wiege schlief, so einer.
Das heißt, wir sind verwundbar, dachte Adelia, denn diese Leute hier in ihrem Bergdorf sind durch ihre Armut verwundbar.
Hier konnte es keinen Schutz für Katharer geben, nicht mal für Katholiken, die sie duldeten. Hier gab es keine wahre Zuflucht vor dem reichen, allmächtigen Feind, der sie umringte. Die Leute hier mochten sich ja in Sicherheit wähnen, aber Adelia wusste, dass sie sich damit täuschten.
Im Zimmer oben, wo das Wappen von Caronne in eine der dicken Steinwände gemeißelt war, saß die Gräfin auf ihrem zerwühlten Bett und sah zu O’Donnell hinüber, der am Fenster stand, den herrlichen Blick genoss und seine Geschichte erzählte.
Als er fertig war, sagte sie: »Da bist du ein ganz schönes Risiko eingegangen, als du sie gerettet hast, Patrick.«
Er wandte sich nicht um. »Ich bin es eingegangen, um sie alle zu retten.«
»Um die Frau zu retten.«
Sein Ächzen war ein halbes Lachen. »Ist es so offensichtlich?«
»Für mich schon.«
Er schlug mit der Faust auf die zwei Fuß dicke Fensterbank. »Warum? Kannst du mir das sagen? Warum? Von allen Frauen … Sie macht nichts her, ist stur wie ein Maultier und sieht nichts als ihren verdammten Bischof.«
Die Gräfin zuckte mit den weißen Schultern. »So was passiert. Mir nicht, Dank sei dir, gebeneidete Mutter, aber es passiert.«
»Ich hätte das nie gedacht.« Er setzte sich neben sie aufs Bett. »Kümmere dich für mich um sie, Fabrisse. Deniz und ich müssen morgen weg.«
»Das werde ich.«
Er gab ihr einen Kuss. »Sie ist eine gute Ärztin, solltest du krank werden. Dreißig aus Joannas Gefolge würden nicht mehr leben, hätte sie die Ärmsten nicht aus ihren Särgen zurückgeholt. Und schenk ihr dein Lächeln, das die Sonne heller scheinen lässt!«
»Ich sagte, ich werde mich um sie kümmern.«
»Es tut mir leid, das mit deinem Mann.«
Wieder zuckte sie mit den Schultern und zog ein Flickenhemd über ihren herrlichen Körper. »Er war alt.«
»Wirst du wieder heiraten?«
»Vielleicht muss ich. Hängt vom Angebot ab.«
»Unterdessen …?«
»Unterdessen …«
Sie lächelten sich an. Als sie sich vorbeugte, um nach ihren Holzpantinen zu suchen, kniff er sie um der alten Zeiten willen in den Hintern. »Du bist immer noch die schönste Frau, die mir je untergekommen ist«, sagte er.
»Ich weiß.« Sie stieß ihn zur Tür. »Seide«, erinnerte sie ihn. »Der Preis ist gerade gestiegen.
Orfrois
muss sie sein, mit einem Silberfaden im Durchschuss. Und eine Gliederpuppe, einen Ritter, für Gervais, wenn er älter ist, einen Mantel für Thomassia, am besten aus englischer Wolle, eine neue Bratpfanne, und wir haben keinen Kreuzkümmel mehr …«
Ihre Liste immer noch weiter verlängernd, begleitete sie ihn die Treppe hinunter, seinen Arm um ihre Schultern.
Als Adelia ihre dritte Ziege gemolken hatte, waren Thomassia und die verwitwete Gräfin beide schon bei ihrer elften.
Ein kalter Wind blies durch die Ziegenpferche, irgendein Wind blies hier oben immer, aber sie trug ihren Umhang und die Arbeit wärmte sie. Sie ließ sich in die Hocke zurücksinken, ihre Schulter schmerzte nur noch wenig, es wurde besser. Genauso, dachte sie, geht es mit meiner Melkkunst. Die beiden anderen Frauen waren überrascht gewesen, als sie sich ihrem ersten Ziegeneuter mit einer Art wissenschaftlichem Interesse genähert hatte, das sich für die Praxis als völlig untauglich erwies.
»Ihr habt
nie
etwas gemolken?«
»Das gehörte in der Schule nicht zu unserem Stoff.«
Dass sie in eine Schule gegangen war, ganz zu schweigen von der Medizinerschule, brachte die beiden ebenfalls zum Staunen. Die Gräfin konnte ihren Namen schreiben, Thomassia nicht mal das.
Adelia hätte ihnen nichts von ihrer Ausbildung gesagt, aber wie es schien, hatte der gesprächige Ire bereits geplaudert. Sie machte sich Sorgen, dass die beiden es weiterverbreiten würden. »Außerhalb von Sizilien werden Frauen, die Ärzte sind, oft für Hexen gehalten.«
»Nein, nein«, sagte Fabrisse leichthin. »Keine Angst, hier wird Euch niemand anschwärzen. Wir haben hier nichts mit den Autoritäten zu tun.«
Wie es schien, war Caronne ein Rastplatz auf einer geheimen Route zu den Katalanen in den Pyrenäen. Das Dorf und seine Gräfin nahmen Besucher auf, die von der Kirche nicht nur verurteilt, sondern eingesperrt worden wären oder Schlimmeres. Nahmen sie auf und geleiteten sie
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