Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
befriedigen würden, ohne Na Lizier zu kompromittieren.
»Ein riesiger Adler könnte ihn gepackt und in die Gasse geworfen haben.«
»Kein Adler, der etwas auf sich hält, hätte ihn angerührt. Nein, er hat sich selbst mit einem Furz in die Höhe katapultiert und ist dann runtergeknallt.«
Adelia achtete nicht weiter auf sie. Sie nahm das Messer von Boggart und fragte sich, wo sie anfangen sollte.
Ulf grinste. »Eine Ziege, was? Wie tief die Mächtigen fallen!«
»Halt den Mund!«, sagte sie. »Dein Geplapper hat mir noch gefehlt. Also dann, ihr Männer, nehmt jeder ein Bein … so ist’s richtig, und legt ihn auf den Rücken.«
Da Rankin den langen, flohgesättigten Ziegenbart hochhielt, begann sie mit einem Einschnitt direkt unter dem Kinn.
Sie war noch nicht mal bis zum Kehllappen gekommen, als sie herausfand, wie Auguste sein Leben gelassen hatte. Etwas hatte ihm die Kehle verstopft.
Sie holte dieses Etwas aus ihm heraus und legte es neben einer Kerze auf den Tisch.
»Was zum Teufel ist das?«
»Ich weiß nicht. Sieht wie Schafwolle aus.« Sie zog die Masse mit dem Messer auseinander. Zerkaute Holzstücke waren darin, und einige nagelartige Spitzen.
»Na Lizier hat ihn also tatsächlich umgebracht«, sagte Mansur. »Sie hat das Vieh erstickt.«
»Hmm.« Adelia legte das Messer zur Seite und begann auf und ab zu laufen. Sie kombinierte ihre Entdeckung mit dem, was sie in den beiden Häusern gefunden hatte.
»Und?«, wollte Fabrisse endlich wissen. »Was sollen wir den beiden alten Frauen erzählen, ohne damit einen Krieg zu entfachen?«
Adelia kam zu einem Schluss. »Die Wahrheit. Beide sind nicht ohne Schuld.«
Sobald der Schnitt säuberlich wieder zugenäht war und sie den Bart darübergekämmt hatten, wurden Na Roqua, Na Lizier und der Rest des Dorfes in die Halle gelassen.
»Auguste hat mir erklärt, dass Folgendes geschehen ist«, sagte Adelia mit klarer Stimme. »Ihr, Na Roqua, habt gestern Abend die Tür zu Eurer Werkstatt aufgelassen …«
»Nein, das habe ich nicht«, rief Na Roqua. »Das tu ich nie.«
»Gestern Abend aber doch. So sagt es Auguste.«
Die alte Frau schmollte. »Nun, vielleicht …«
»Und Auguste ist hineinspaziert und hat sich an Eurer Schafwolle gütlich getan.«
»Das würde ihn nicht umbringen«, sagte ein Roqua-Sohn. »Auguste konnte alles fressen.«
»Dabei hat er wenigstens einen Eurer Kardierkämme mitgefressen«, fuhr Adelia mit fester Stimme fort. »Die spitzen Nadeln steckten in einem Wollball in seiner Kehle, sodass er ihn nicht schlucken konnte. In seiner Not ist er dann hinaus in die Nacht und in Na Liziers Haus gestolpert. Eure Tür war nicht verriegelt, oder?«
Na Lizier zuckte mit den Schultern. Niemand in Caronne macht sich die Mühe, seine Tür zu verschließen. Vor wem sollte man sich schützen wollen?
»Immer noch nach Luft schnappend, wollte er hoch aufs Dach, wobei ihm die Anstrengung die Nadeln noch fester in die arme Kehle drückte und sie mit der Wolle verstopfte, so dass er, als er das Dach erreichte, erstickte. Auguste hat mir erzählt, dass Na Lizier ihn dort heute Morgen nach dem Aufstehen tot vorgefunden hat, und weil sie fürchtete, Na Roqua würde sie verdächtigen, ihn getötet zu haben – genau, wie Ihr’s getan habt, Na Roqua – hat sie seinen Körper in die Gasse geworfen. Das nimmt er Euch nicht übel, Na Lizier, genauso wenig wie er Euch die Schuld an seinem Tod gibt, Na Roqua, weil Ihr die Tür zu Eurer Werkstatt leichtsinnig habt offenstehen lassen. Alles, was er sich wünscht, ist, dass Ihr beide die Freundinnen bleibt, die Ihr immer wart.«
Einiges von dieser Geschichte war geraten, einiges gefolgert. Mehr hatte sie nicht tun können.
In der Halle war es still, nur der junge Graf, der immer noch auf den Rücken seiner Mutter gebunden war, fing langsam an zu quengeln, weil er gefüttert werden wollte.
Die Spannung war kaum auszuhalten.
Na Roquas Stock klackte auf den Steinboden, als sie zu Na Lizier hinüberging. »Es tut mir leid«, sagte sie.
»Und mir tut es auch leid.«
Die beiden alten Frauen umarmten sich.
Alles jubelte, und Fabrisse legte ihren Arm um Adelia. »Unsere Retterin«, sagte sie.
Auguste wurde jetzt ein weiteres Mal von den Roqua-Söhnen hochgenommen und weggebracht, um ehrenvoll begraben zu werden.
Die alte Frau folgte ihnen nach draußen und blieb noch kurz vor Adelia stehen. Sie starrte ihr ins Gesicht. »Hat Auguste Euch gesagt, in welchem Körper er nun leben wird?«
Ȁh, nein,
Weitere Kostenlose Bücher