Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
bezahlt wie versprochen. Bei Lieferung. Und jetzt lass er mich allein!«
Mit einer Verbeugung geht Scarry davon, und als er sich noch einmal umsieht, ist der Koloss auf die Knie gefallen, hebt die gefalteten Hände zum Himmel und fleht um was? Um Absolution? Um Erlösung von dem Dorn, der sein armes Fleisch so quält?
»Du betest zum falschen Herrn, Idiot«, sagte Scarry leise und verschwindet in der Schwärze, aus der er gekommen ist.
Auch wenn sich die Nächte bereits kalt zeigten, waren die Oktobertage in Aquitanien doch warm, und Joanna tauchte in ihr altes Leben ein, war wieder Kind, tollte durchs Herbstlaub und spielte mit Gleichaltrigen Blindekuh. Sie war ganz offensichtlich kerngesund und überließ ihre Ärzte sich selbst.
Bei all dem kam das leibliche Wohl nicht zu kurz. Es gab genug Schlafzimmer, sodass Adelia eines für sich hatte, nur zu teilen mit Boggart und Ward, und – oh, Freude – es hatte einen eigenen Abort. Das extra Bad für die Damen war ein marmornes Bassin von fast sieben Metern Länge, und jeder kleine Beistelltisch lag voll mit Früchten und Naschereien.
Auch die Geräusche änderten sich. Die Aquitanier im Hochzeitszug waren bei ihrer Ankunft in Poitiers gleich in ihre Muttersprache gefallen, die
langue d’oc,
die durch den Palast hallte, als würde er von einer Brise aus einem anderen, exotischeren Kontinent erfüllt. Die
langue d’oc
unterschied sich so sehr vom normannischen Französisch, dass selbst Adelia, die sich Sprachen aneignete, wie Sand Wasser schluckte, erst einige Schwierigkeiten damit hatte. Bald jedoch schon erinnerte sie sich an ihre Besuche in den okzitanischen Tälern Italiens und den Dialekt, den die Leute dort sprachen, und schon vermochte sie die Laute zu bilden und sang in der Kirche zusammen mit den anderen die okzitanische Version des Paternoster:
»Paire de Cèl, Paire nòstre, sanctificat lo tue Nom …«,
ganz wie eine Frau aus dem Languedoc.
Die wahre Magie der Sprache fand sich jedoch nicht im kirchlichen Gesang, sondern in den Liedern von der Liebe zu einer Frau. Über Balustraden gebeugt, an Statuen lehnend, seufzend zu ihren Lauten und Gamben singend, fanden sich junge Nobelmänner, in denen Eleonor die Tradition der höfischen Liebe wachgerufen hatte. Jede edle Dame wurde da angesungen, und stets ging es um Liebe ohne Hoffnung auf Erfüllung.
Wohin immer sie gingen, umkreiste eine Schar junger Männer Lady Beatrix, Lady Petronilla und Mistress Blanche wie ein Schwarm bunter Vögel, die um eine Handvoll verschüttetes Korn herumflattern.
Adelia zog zu ihrer Überraschung einen eigenen Troubadour an, der wenigstens zehn Jahre jünger war als sie. Sie fragte sich, ob Sir Guillaume zu unreif war, zu entflammt oder zu dumm, um zu begreifen, dass sie nicht nur nicht von Stand, sondern in der gerade angekommenen Reisegesellschaft zudem noch so etwas wie eine Persona non grata war. Vielleicht hatte sich an diesem berauschenden, verzauberten Ort niemand die Mühe gemacht, es ihm zu sagen.
Es war durchaus nicht unangenehm, durch die Kräutergärten zu streifen, um ihre Vorräte aufzufrischen, und dabei von einem jungen Mann verfolgt zu werden, der zum Klang seiner Gambe schwor, vor Liebe zu ihr zu vergehen.
Rowley gefiel es natürlich weniger. Er stürzte auf sie zu. »Und was ist der kleine Schleimer, wenn er zu Hause sitzt?«
Gesegnet sei er, dachte sie. Er kann immer noch eifersüchtig sein. Wie befriedigend!
Sie sagte: »Das ist Sir Guillaume de Chantonnay. Ich finde, er singt sehr schön.«
»Wirklich? Ich habe schon wohltönendere Wiesenknarren gehört.« Damit stapfte er davon.
Praktisch die einzige Person, die sich mit Poitiers und dem Palast nicht anfreunden konnte, war Vater Guy. Er war außer sich über die spirituelle Lässigkeit im Spiel, hasste die Lieder, die nicht Gott, sondern den weiblichen Körper priesen, sah Verdammnis im Puder, der Farbe, den tief ausgeschnittenen Kleidern und herunterhängenden Ärmeln der Frauen, die damit lächerlich lang wurden, und natürlich auch in den kurzen Röcken der jungen Männer, die sehen ließen, wie stramm die Hosen auf den Hinterbacken saßen.
Er beklagte sich wortreich und geriet noch mehr aus der Fassung, als er begriff, dass sein geistlicher Bruder zu genießen schien, was er um sich herum sah. »Willst du deine Hoffnung auf das Paradies in Gefahr bringen?«, schrie er Vater Adalburt an, als er ihn spät noch mit ein paar von Richards Rittern beim Würfelspiel
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