Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
sein?‹ Und so antwortete er mir, den lieben Schädel in die Hände nehmend: ›Siehe, du Suchender der Wahrheit, das hier ist der Kopf des heiligen Johannes als junger Mann. Der Schädel in Antiochia ist der des gereiften Johannes.‹«
Adelia schloss vor Wonne die Augen.
Bis zum erneuten Aufbruch verblieben noch vier Tage.
Obwohl die beiden um Zeit beteten wie ein Paar, auf das der Galgen wartet, wurde Rowley viele Stunden durch seine Pflichten ferngehalten. Adelia verbrachte sie mit Boggart und Ward im maroden Nebenhaus, zerstieß Wurzeln, kochte Kräuter und wartete auf seine Rückkehr.
Und während dieser Stunden wuchs der Verdacht, den Adelia schon seit längerem im Kopf mit sich trug, zur Gewissheit.
Wie alle anderen Frauen, die Joanna begleiteten, hatte auch Adelia während der Reise Probleme damit, ihre Menstruationsbinden zu wechseln und zu waschen. Manchmal mussten sie unterwegs mehrmals gewechselt werden, was nur im Geheimen geschehen durfte, da die Männer, die kaum etwas von den Funktionsweisen des weiblichen Körpers ahnten, nicht erfahren durften, dass die Frauen einmal im Monat bluteten. So mussten Strategien wie etwa kleine Ausflüge in den Wald erfunden werden, es gab bedeckte Eimer mit kalten Wasser, um die Binden einzuweichen, und einiges Fluchen aus weiblichem Mund.
An all diesen Dingen hatte Boggart nicht ein einziges Mal teilgenommen.
Es konnte nicht länger hinausgeschoben werden. »Wann wird dein Baby kommen, Boggart?«, fragte Adelia sie wie nebenhin.
Eine Schüssel, in der das Mädchen Blumen und Thymianblätter zerstoßen hatte, um einen Aufguss zu bereiten, der ironischerweise Mistress Blanche bei ihren Monatsbeschwerden helfen sollte, fiel zu Boden und zerbrach.
Boggart ging es ähnlich. »Mistress, oh, Mistress, seid Ihr sicher, dass es das iss? Ich wusste nich’ und war so voller Angst. Ich hab’ gehofft, es wär’ was andres und ich bin krank.«
Adelia lächelte. »Ich bin ziemlich sicher, dass es ein Baby ist.«
»Bei Gott, das wollte ich nich’. Was mach ich jezz? Vergebt mir, Mistress, vergebt mir!«
»Basilikum«, sagte Adelia mit fester Stimme. »Wo hast du die Basilikumtinktur hingestellt?« Mit einer Hand nahm sie das Fläschchen und einen Löffel und schob Boggart mit der anderen vor sich her ins Haus hinüber, setzte sie hin und flößte ihr zwei Löffel des Gebräus ein, das die Geister belebte. Dann setzte auch sie sich auf den Boden und legte die Hände um die Knie. »Also los!«, sagte sie. »Erzähl mir, wie es dazu gekommen ist.«
Es gab nichts, was Boggart zu vergeben gewesen wäre. Es war die uralte Vergewaltigungsgeschichte, oder zumindest doch Nötigung durch den Gutsherren, in diesem Fall Lord Kenilworth, zu dessen Familie Boggart als Waise gekommen war.
»Er sagte, ich muss. Lieg still, hat er gesagt, und schrei nich’, sonst verlier ich die Stellung und er schickt mich auf die Straße.«
Deswegen hatte das Mädchen auch so panisch auf Sir Nicholas’ Avancen auf ihre Schuhe reagiert. Jede deartige Annäherung durch einen Mann erinnerte sie an ihre Vergewaltigung.
Boggart hatte Angst gehabt, jemandem davon zu erzählen, ihre Stellung aber trotzdem verloren, weil Lady Kenilworth das Grunzen ihres Mannes gehört hatte und in den Stall gekommen war.
Diese Dinge passierten in den besten Familien, ja sie wurden geradezu erwartet. Lady Kenilworth befand sich jedoch in verletzlicheren Position, weil sie auch drei Jahre nach der Hochzeit noch kein Kind auf die Welt gebracht hatte und Lord Kenilworth, der unbedingt einen Sohn wollte, langsam ungeduldig wurde.
Um ihre Ehe fürchtend und aus Angst, dass ihr Mann
in extremis
einen Bastard als seinen Erben adoptieren könnte, hatte die Frau Boggart nicht nur entlassen, sondern gleich auch dafür gesorgt, dass das Mädchen nicht im Land sein würde, wenn es das Kind bekam. Sie hatte ihre Schwägerin Lady Petronilla, die kurz davor stand, in die Normandie aufzubrechen, angefleht, Boggart außer Landes zu schaffen.
Lieber Gott, dachte Adelia, in welche Abgründe uns die weibliche Hilflosigkeit führt!
Ich hab’ gehofft, es wär’ was andres und ich bin krank.
Adelia fragte sich wütend, was wohl geschehen wäre, wäre Lady Petronilla Boggart nicht an sie losgeworden. Hätte die Ärmste dann irgendwann verlassen in der Fremde gestanden? Allein auf weiter Flur, ohne Freunde?
»Wann ist es passiert?«, fragte sie. »Wann ist er über dich hergefallen?«
»War nich’ nur einmal«, schluchzte die
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