Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
darüber, dass sie das Volk ihrer Mutter besuchte. Sie war
ihre
Prinzessin. Aus den vorspringenden Fenstern flogen dem Mädchen getrocknete Rosenblätter und Zuneigung entgegen. Seit ihren Kindertagen war sie den Bürgern der Stadt vertraut.
Eine Woche sollten sie hier verbringen, und Adelia war froh darüber, so schnell sie nach Sizilien und wieder zurück nach England kommen wollte. Mensch und Tier waren erschöpft und dünnhäutig. Alle brauchten eine Pause.
Als sie das Plateau im Herzen Poitiers’ erreichten, hörte Adelia von Joanna das wohlige Stöhnen eines Menschen, der zurück in seine Heimat kam. Die Abendsonne tauchte die weißen Steintürme und die Fassaden der Häuser in ein rosa schimmerndes Ocker und machte aus dem Wasserlauf rund vierzig Meter unter ihnen ein ruhiges, von Weiden gesäumtes Band aus Amethyst.
Adelia verspürte Mitgefühl mit der exilierten, in England eingesperrten Frau, deren Lieblingssitz diese Stadt gewesen war. Eleonor hatte Poitiers ihren unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. Denn wer, wenn nicht Eleonor, hatte die Bäume auf den öffentlichen Plätzen gepflanzt, die noch im Herbst so schön waren? Die verspielten Brunnen mit den nackten Figuren errichten lassen, die ihren ersten Mann, den frommen Ludwig, zweifellos schockiert hätten? Und wenn die Kathedrale, deren Bau sie und Henry begonnen hatten, auch noch nicht fertig war, so war die Fassade doch bereits ein Wunder der Steinmetzkunst. Sie erzählte die Geschichte der Bibel, und es musste Eleonors Einfluss zu danken sein, dass zwischen allem ein kleiner Jesus zu sehen war, der in so etwas wie einem Bad saß und von Schafen bewacht wurde.
Nur ein paar Kilometer entfernt hatte Karl Martell, der fränkische Hausmeier, im Jahr 732 der muslimischen Flut Einhalt geboten, die das fränkische Königreich unter sich zu begraben drohte, und dieses vor der Eroberung gerettet. Das war damals ein Wendepunkt für ganz Europa gewesen, und Poitiers war stolz darauf, was allerdings, wie Adelia fürchtete, Mansurs Anwesenheit in der Stadt zu einem Ärgernis werden lassen konnte, besonders unter den naiveren Gemütern, und die ebenfalls eher einfach denkenden Brune und Edeva würden alles tun, um Öl ins Feuer zu gießen.
Im Gegensatz zu Henry, dem Jüngeren kam Richard Plantagenet nicht gelaufen, um seine Schwester zu begrüßen. Er war, wie Adelia auf den ersten Blick sah, kein impulsiver Jungsporn. Wie ein in Gold gekleideter Koloss stand er an der Tür zu Eleonors Palast, prachtvoll wie sein Bruder Henry, aber größer und behäbiger, körperlich wie geistig.
Die beiden Brüder verstanden sich nicht. Die Revolte gegen ihren Vater hatten sie zwar gemeinsam angezettelt, aber als die drei ihren Frieden machten und der englische König Henry, dem Jüngeren befahl, seinem Bruder Richard zu helfen, die aquitanischen Aufständischen zu besiegen, da war Henry geflüchtet und hatte sich lieber seinen Turnieren gewidmet.
Ein einziger Blick auf Richard sagte Adelia, dass dieser, der tatsächlich der Jüngere war, sollte es je zu einem offenen Krieg zwischen den beiden Brüdern kommen, den Sieg davontragen würde.
Nachdem er sich vor Joanna verbeugt und ihr die Hand geküsst hatte, klang seine tiefe Stimme über den Hof: »Hier ist meine geliebte Schwester, die Prinzessin von meinem Blut. Ihre Freunde sind meine Freunde, und wer versucht, ihr ein Leid anzutun, wird die Kraft meiner Faust erfahren.«
Das war unnötig, dachte Adelia. Wer sollte diesem Kind schon etwas antun wollen?
Joanna aber sah ihren Bruder anbetungsvoll an und wurde, ihre Fingerspitzen auf seiner Hand, in eine Halle geführt, die größer und beeindruckender war als alle Hallen, die Adelia je gesehen hatte.
Das Gastmahl dort an diesem Abend spiegelte ebenfalls Eleonors Geschmack wieder. Henry hätte es sicher nicht zugesagt.Jeder Gang war durchdacht. Es gab keinen Wildschweinkopf ohne Hauer und einen Apfel im Maul, keinen Pfau ohne seine gefächerten Schwanzfedern, keine Auster ohne eine Perle. Zudem war alles von einer Frische, die einen denken ließ, das Tier oder die Frucht habe gestern noch in dieser üppigsten aller Landschaften gelebt und sei erst heute geschlachtet oder geerntet worden. Jugendliche Ritter waren den weiblichen Gästen gegenüber in der Überzahl, was Eleonor ebenfalls gefallen hätte, mochte sie doch männliche Bewunderung, besonders von Jüngeren.
Ihrem Sohn ging es offenbar genauso. Zwar wurde neben Joanna auch den Hofdamen die Ehre zuteil,
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