Der Fluch der Totenleserin totenleserin4
er sagt, versteht sowieso kein Mensch.«
Wahrscheinlich würde niemandem auffallen, dass sie und ihre Anstandsdame Boggart den Palast verlassen hatten. Fast alle von Eleonors Leuten waren bereits mit ihrer Königin in Poitiers gewesen und jetzt viel zu beschäftigt damit, alte Freunde zu besuchen und mit ihnen zu feiern, als dass ihnen das Fehlen eines einzelnen Paares aufgefallen wäre, das ihnen sowieso mehr oder weniger egal war. Und selbst wenn: Das Brauen von Tränken und Tinkturen war eine plausible Entschuldigung.
Als Adelia und Boggart ihr neues Heim reinigten, was äußerst notwendig war, hörten sie den Klang einer Laute, gefolgt von einer honigsüßen Stimme, die aus Richtung des Flussufers herüberdrang.
»Ich habe meine Dame auf ihrem Balkon gesehen,
wie sie Fische im Fluss fütterte,
gütig und fürsorglich,
aber mich füttert sie mit
einer weit leichteren Substanz.«
»Zum Teufel mit dem Kerl«, sagte Adelia. Sie trat auf den Balkon hinaus und versuchte Sir Guillaume zu verscheuchen.
Er winkte zurück.
Verärgert machte sie sich wieder an die Arbeit. »So viel zu unserer Abgeschiedenheit hier. Warum alarmiert er nicht sämtliche Glöckner der Stadt, wo er schon mal dabei ist.«
»Er singt aber schön, nich’?«, sagte Boggart.
»Das tut er wohl.« Adelia war beunruhigt. Da war noch jemand gewesen. Ein großer, schlanker Mann hatte von der anderen Flussseite zu ihrem Balkon herübergesehen, bevor er zwischen den Bäumen verschwunden war. Er hatte ausgesehen wie, nun sie war sich nicht sicher, aber er hatte ausgesehen wie O’Donnell.
Sir Guillaume sang weiter.
»Für dich, meine Dame, singen drei Vögel auf jedem Ast,
und doch machst du dir nichts aus meinem Lied.«
Der Refrain endete abrupt. Sie hörten einen Schrei und ein Platschen.
Während Boggart lief, um nachzusehen, was geschehen war, fragte Adelia die im Türrahmen erscheinende Gestalt: »Was hast du mit Sir Guillaume gemacht?«
»Ich hab ihn in den verdammten Fluss geworfen. Das wird seine Leidenschaft für dich dämpfen.« Und auf ihren besorgten Blick hin sagte Rowley: »Es ist ihm nichts passiert. Der Fluss ist da flach, und dieser Barde da ist nur etwas nasser als vorher. Wenn das denn geht.«
Boggart linste durch die Tür und nahm Ward mit ins kleine Nebenhaus.
»Der arme Sir Guillaume«, sagte Adelia.
»Ich bin der Arme. Diese Bruchbude zu mieten, kostet mich ein Vermögen. Jetzt komm schon aus deinen Kleidern!«
Sie seufzte. »Sir Guillaume drückt es so viel schöner aus«, sagte sie und hielt ihren Geliebten mit einem Kuss davon ab zu sagen, was Sir Guillaume sonst noch tun könne.
Das eine Bett im Schlafzimmer war voller Staub und ließ sie niesen, aber der Sonnenschein auf dem Fluss warf schwankende, fließende Spiegelungen auf die Decke, und sie liebten sich wie in einem Traum.
Hin und wieder fanden sie Zeit zum Reden.
»Richard tut mir leid«, sagte sie.
»Ich hätte mehr Mitgefühl, wenn er mehr Verständnis für die Sünden anderer Menschen hätte. Wenn er uns hier so sähe, würde er uns in die Grube werfen und denken, er hätte Gott einen weiteren Dienst erwiesen.«
»Ich frage mich, wie es Allie geht.«
Jetzt seufzte er mit ihr. »Ich auch.« Und dann: »Ich werde nachts zurück in mein keusches Bett müssen. Ich kann mich nur nachmittags mit unmoralischen Frauen treffen. Übrigens predigt Vater Adalburt heute Abend in der Kathedrale. Kommst du hin?«
»Ganz sicher.«
Von Zeit zu Zeit übernahmen es die Geistlichen, den Bischof von Winchester von seiner Pflicht zu entbinden, die Predigt zu halten. Vater Adalburt kam nur selten an die Reihe, weil sowohl Vater Guy als auch der Bischof selbst seine Predigten für peinlich hielten. Dennoch kamen immer alle in Scharen, wenn die Reihe an ihm war.
Nicht zum ersten Mal fragte sich Adelia, ob der Mann wirklich so dumm sein konnte, wie er aussah, was sie jedoch nicht davon abhielt, sich von ihm unterhalten zu lassen.
An diesem Abend übertraf sich Vater Adalburt selbst. Sein Thema war das Wunder der heiligen Reliquien. »Als wir im edlen Poitou waren, habe ich die Gelegenheit ergriffen, Saint-Jean-d’Angély zu besuchen, wo der ehrwürdige Kopf des Schutzheiligen des Klosters liegt, der Kopf Johannes des Täufers.«
Er strahlte die versammelte Gemeinde an. »Wie kann das sein, mögt Ihr Euch fragen, denn wird der Kopf dieses großen Heiligen nicht auch in Antiochia verehrt? So fragte ich denn den Prior von Saint-Jean-d’Angély: ›Wie kann das
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