Der Fluch des Blutes
hier? Wer vermag das schon zu sagen?«
Bonampak schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Weshalb sonst sollte uns der Weg dorthin verwehrt sein?«
»Zu unserer Sicherheit vielleicht«, meinte Selva. »Wer weiß - womöglich gibt es jenseits der Wälle gar nichts Erstrebenswertes? Vielleicht ist -«
»Hör auf!« ereiferte sich Bonampak. »Wie kannst du so etwas auch nur denken? Du untergräbst damit die einzige Hoffnung, die unser Volk seit Jahrhunderten bewegt und das Leben in Mayab erträglich macht - daß es draußen besser ist, und daß sich uns irgendwann der Weg dorthin öffnet, in ein würdigeres Dasein!«
Selva blickte einen Moment lang betroffen drein, dann brachte sie ein kleines Lächeln zustande.
»Verzeih mir«, sagte sie, »aber -«
Eine weitere Wehe ließ ihre Worte in Stöhnen ersticken. Ihre Finger krampften sich um Bonampaks Hände, ihre Nägel drückten ihm in Haut und Fleisch, so daß er selbst fast aufstöhnte. Aber er zwang sich zur Beherrschung - was war dieser lächerlich geringe Schmerz schon im Vergleich zu dem Selvas?
»Bleib bei mir«, flüsterte sie nach einer Weile, »und steh mir bei.«
»Natürlich«, erwiderte er. »Ich werde dich und unser Kind behüten. Niemand wird es uns fortnehmen -«
Er biß sich auf die Zunge, um nicht auszusprechen, was er noch hatte sagen wollen. Nicht jetzt, nicht in dieser Situation, da ihnen ein neues Kind geschenkt wurde.
Aber Selva erriet oder teilte gar seine Gedanken.
»- wie schon einmal?« beendete sie Bonampaks Satz.
Er nickte stumm, gallebitteren Geschmack im Mund und ein Brennen in der Brust, während er an das kleine Mädchen dachte, das sein Leben nur eine Handvoll Jahre mit ihnen hatte teilen dürfen, ehe es von den Priestern auserwählt und zu den Tyrannen gebracht worden war, um - Bonampak kappte den Gedankengang in aller Hast, bevor er dessen leidvolles Ende erreicht hatte. Er löste die rechte Hand aus Sel-vas Griff und streichelte sanft, unendlich zärtlich die Rundung ihres Bauches, als streiche er einem Kind übers Köpfchen.
»Diesmal nicht«, sagte er entschlossen.
Seine Worte kamen einem Schwur gleich.
Aber menschliche Schwüre galten wenig an einem Ort wie Mayab, wo Wesen das Sagen hatten, denen alle Menschlichkeit fremd war.
*
Landru hatte ihr Mayab als Heimat angepriesen. Aber Lilith hatte sich nie zuvor weniger heimisch gefühlt.
Nachdem sie den Palast verlassen hatte und der Tempelbezirk mit seinen beeindruckenden Bauten hinter ihr zurückgeblieben war, bewegte sie sich zwischen den schlichten Häusern und Hütten einher, und sie kam sich vor, als würde ein übler Gestank sie umgeben, oder etwas sehr viel Schlimmeres. Wohin sie sich auch wandte, wichen die Menschen vor ihr zurück, suchten Schutz in ihren Behausungen, deren Türen sie schlossen und verriegelten. Nur wenige blieben draußen, aber auch sie schufen Distanz zwischen sich und Lilith.
Gemein waren ihnen allen aber eines, und sie verströmten es gleichfalls wie einen weittragenden Geruch: Angst.
Lilith konnte die Furcht der Menschen förmlich riechen. Eine unangenehme Empfindung. Viel schlimmer jedoch war, was dieses Gefühl in seinem Ursprung bedeutete: Die Menschen Mayabs fürchteten Lilith, und unter dieser Furcht verborgen lag Abscheu.
Wie sollte sie sich je an diesem Ort heimisch fühlen, wenn ihr nur Angst und kaum verhohlener Haß entgegengebracht wurden?
War es schon immer so? fragte sie sich, nach Erinnerung suchend.
Verstand ich es früher nur besser, damit zu leben?
Wieder einmal erreichten ihre Gedanken einen Punkt, an dem Zweifel sich zu einem Hindernis auftürmten und ihren Fluß stocken ließen.
Wie konnte es angehen, daß sie restlos alles vergessen hatte? Es schien ihr unvorstellbar, daß sie je einem Wesen entsprochen hatte, das sich an einem Ort wie Mayab wohlfühlen konnte. Er war so anders als alles, was Lilith draußen in der anderen Welt gesehen und erlebt hatte in den Wochen, die zwischen ihrem Erwachen in jenem italienischen Kloster und ihrer Ankunft hier vergangen waren. Zwar hatte sie sich auch in dieser Zeit nirgends willkommen gefühlt, aber es war doch überall eine Art von Wärme zu spüren gewesen, die jedem Ort etwas eingehaucht hatte, das ihn in gewisser Weise lebenswert machte.
Hier aber, in Mayab, vermißte sie diesen Hauch. Alles schien ihr kalt und trostlos, und es lag nicht allein an der nächtlichen Sonne, deren Licht gleichsam ausgesperrt schien. Es waren die Menschen selbst, die
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