Der Fluch des Blutes
er die Sichtluke dereinst so angelegt hatte, daß der Blick geradewegs auf den Tempelbezirk und den Palast der Tyrannen fiel. Zu jeder Tages- und Nachtzeit fühlte er sich von dort her angestarrt und beobachtet. Als würden sie zu jeder Zeit hinter den ewig dunklen Palastfenstern lauern, um ihr armseliges Volk, das ihnen doch nicht mehr als Vieh galt, im Auge zu behalten. Dabei kannten sie doch ganz andere Mittel zur steten Kontrolle .
»Ich wünschte, es gäbe einen Weg, unserem Kind ein lebenswertes Dasein zu ermöglichen. Ich würde ihn gehen und jeden Preis dafür auf mich nehmen«, sagte Bonampak leise und mehr zu sich selbst als zu Selva.
Sie aber hörte ihn trotzdem und seufzte vernehmlich.
»Flüchte dich nicht in Träume«, erwiderte sie, ganz im Ton der ihr eigenen Sanftmut, die kaum zu erschüttern war. »Was nützt es schon, über Dinge nachzusinnen, die uns auf ewig unerreichbar bleiben - wie sie es für unsere Vorväter waren und unsere Nachkommen immer sein werden?«
Bonampak schwieg eine Weile, dann wandte er sich nach Selva um. Sein Blick aber ging über sie hinweg, weil er es nicht fertigbrachte, sie anzusehen bei dem, was er als nächstes sagte, und seine Stimme klang bitter: »Manchmal glaube ich, daß nur der Tod für einen Bürger Mayabs erstrebenswert ist. Und -«, Selvas Blick meidend, richtete er seine Augen tiefer, auf ihren Bauch hinab, »- daß es eine Gnade für jedes Neugeborene wäre, würde man ihm den Umweg übers Leben zum Tod ersparen.«
Atemlose Stille hielt für Sekunden Einzug in die Hütte. Selva brauchte eine Weile, um die Bedeutung von Bonampaks Worten zu erfassen, doch selbst dann war sie noch nicht sofort in der Lage, ihm zu antworten. Scharf sog sie schließlich die Luft ein und stieß entgeistert hervor: »Bonampak! Wie kannst du nur so reden? Was du da sagst, ist grausamer als alles, was die Tyrannen unserem Volk je angetan haben!«
Er lächelte schwach, schwieg aber.
»Und überdies«, fuhr Selva fort, schon weniger aufgebracht und eher traurig nun, »würden sie dich mit Schlimmerem als dem Tod bestrafen, wenn sie davon erführen - und das würden sie. Sie wissen um jede bevorstehende Geburt.«
Bonampak winkte müde ab. »Schon gut. Es war nur so dahingere-det.«
Er bereute es, seine geheimsten Gedanken ausgesprochen zu haben, und so wechselte er nun eilends das Thema. Wieder richtete er den Blick aus der Fensterluke.
»Ich frage mich«, begann er nach einer weiteren Zeit des Schweigens, »was es mit diesem Paar auf sich haben mag, das gestern mit den Tyrannen in Mayab eintraf.«
Freilich hatte er mit Selva schon über die beiden Fremden gesprochen, schließlich waren sie wie alle Einwohner draußen gewesen, um den Gottkönigen und ihren geheimnisvollen Besuchern die Ehre zu erweisen. Aber niemand wußte, wer die beiden waren. Nur Gerüchte kursierten - über die Maßen unerfreuliche Geschichten, die aus den Reihen der Priesterschaft gedrungen waren. Denn diesen Gerüchten zufolge handelte es sich bei den Fremden um geradezu legendäre Persönlichkeiten. Und es stand zu befürchten, daß sie die Herrscher Mayabs in jeder Hinsicht übertrafen - sowohl an Macht als auch an Grausamkeit.
Einen Vorgeschmack darauf hatte die vergangene Nacht geboten. Zwar hatte Bonampak nicht im Detail mitbekommen, was droben auf der Tempelpyramide geschehen war, aber selbst seine lückenhafte Beobachtung ließ nur den Schluß zu, daß es etwas Urgewaltiges und Grauenhaftes gewesen sein mußte.
»Die Frau ist sehr schön«, bemerkte Selva von ihrem Lager her. Ihre Stimme klang gepreßt, und ein rascher Blick zu ihr hin bewies Bonampak, daß eine neue Wehe gekommen war.
Schnell trat er zu ihr und kniete nieder. Seine Hände faßten die ihren. Selva entspannte sich, atmete tief und ruhig.
»Geht es wieder?« fragte er.
Sie nickte und kam dann wieder auf das fremde Paar zu sprechen: »Ich kann mir nicht vorstellen, daß von ihr eine Gefahr ausgeht. Sie wirkte so - unschuldig.«
Bonampak zuckte die Schultern, sein Tonfall klang verächtlich: »Die Maske mag täuschen. Sieh dir doch die Tyrannen an - sehen sie nicht samt und sonders aus, als wären sie zum Leben erwachte Skulpturen, von der Hand des größten Meisters gefertigt, geradezu unglaublich schön? Und tatsächlich sind sie doch nur Ungeheuer, wie es sie grausamer nirgendwo geben kann.«
»Woher willst du das wissen?« fragte Selva. »Vielleicht sind die Welt und das Leben jenseits der Grenze um Mayab noch schlimmer als
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