Der Fluch des Blutes
gesetzt. Dabei gibt es so vieles, was auch dich zum Staunen bringen könnte. Diese Kultur hat Beachtliches vorzuweisen. Ich würde dich gern davon überzeugen.«
Nona blickte sekundenlang an ihm vorbei - geradewegs ins Nichts. Danach hätte sie selbst nicht mehr sagen können, woran sie gerade gedacht hatte.
»Warum liegt dir soviel daran?« fragte sie. »Nur weil du mich sympathisch findest?«
»Aber nein ...« Ein Lächeln löste die kalte Götzenmaske auf, die andere Facetten seines Wesens verbarg. »Natürlich erwarte ich eine Gegenleistung.«
»Welche?«
»Als ich ein Kind war, ein Junge von vier Jahren, gab es die beiden Wälle, die unsere kleine Welt umschließen, noch nicht. Damals mag es geschehen sein, daß ich ein Stück von dem sah, was dahinter liegt. Aber du wirst verstehen, daß ich mich daran nicht mehr zu erinnern vermag. Nicht einmal verschwommen .«
Nona verstand.
»Du willst, daß ich dir erzähle, wie es draußen aussieht und zugeht«, sagte sie. »Du willst erfahren, was ihr hier drinnen versäumt.« Der Ausdruck seiner Augen ließ sie frieren.
»Vielleicht«, bot er nach kurzem Schweigen an, »gibt es auch Dinge, denen du hier begegnet bist und die du nicht verstehst, aber gern verstehen würdest. Ich weiß nicht, wieviel der Kelchmeister, unser gestrenger Vater, dir über Mayab erzählt hat .«
»Mayab«, echote Nona. »So nennt ihr die Stadt?«
»Er nannte sie so.«
»Hat der Name eine tiefere Bedeutung?«
Zapata bejahte. »In unserer Sprache bedeutet es Land der Weisheit.«
Nona kannte Landrus mitunter skurrilen Humor - und seinen Zynismus. Deshalb wußte sie nicht einzuschätzen, wie ernst es ihm mit dieser Namensgebung gewesen war.
Wessen Weisheit wurde da angesprochen? Seine?
»Ich gebe zu, ich weiß sehr wenig über diese Welt«, sagte sie vorsichtig. »Aber ich warne dich: Ich kann sehr unbequem sein, und vielleicht bin ich eine zu starke Frau für dich ...«
»Heißt das Ja?«
»Das heißt, daß du gleich anfangen kannst, mir etwas zu erklären.«
»Hier?«
»Ja.« Sie deutete auf den Spiegel in der Wand, der den Raum und das Mobiliar wiedergab, aber den Menschen, der darin Quartier bezogen hatte, verleugnete. »Sag mir, warum ich mich darin nicht sehen kann. Ich würde es verstehen, wenn ich ein Vampir wäre. Aber .«
Im Reden ging sie auf die spiegelnde Fläche zu - und erzitterte, als sie den neben ihr herlaufenden Zapata darin auftauchen sah.
Einen, der zweifellos ein Vampir war!
Zunächst schien es, als wollte ihr Begleiter ihre Verwirrung auskosten. Doch dann besann er sich des Angebots, das er ihr gemacht hatte, und sagte: »Wie du dir sicher schon gedacht hast, sind es magische Spiegel. Nichts anderes vermag unsere Gestalt für uns selbst sichtbar zu machen.« »Das erklärt nicht«, warf Nona ein, »warum er mich nicht zeigt.« »Er würde auch keinen der Menschen zeigen, mit denen wir diese Welt teilen, um unseren Durst zu stillen«, erwiderte er. »Diese Spiegel zeigen nur Formen, die tot sind - oder Totes in sich tragen. Für sie bist du zweifellos zu lebendig .«
*
Der Rest des Tages verging für Nona wie im Fluge. Zapata führte sie aus dem monumentalen Palastes hinaus auf die Ebene, die sich zwischen den Wällen erstreckte, hinaus zu den Menschen. Denn nicht nur bewirtschaftete Felder und Äcker - überwiegend Maisanpflanzungen - lagen dort, sondern auch die Adobehütten der sterblich gebliebenen Maya, die hier bereits in neunundzwanzigster Generation siechten, sich selbst und ihre Unterdrücker nährend .
Nona hatte die Ebene auch bei ihrer Ankunft durchschritten, aber die Orte, die Zapata ihr nun zeigte, waren ihr noch unbekannt. Das Stadtleben, das sie in den zurückliegenden Tagen nur von ihrem Fenster aus beobachtet hatte, wirkte aus der Nähe noch sehr viel bedrückender.
Der Vampir gab sich davon unberührt. Die Ehrerbietung, die ihm von allen Seiten entgegengebracht wurde, schien er jedoch zu genießen.
Irgendwann begann es zu regnen. Zapatas kunstvoll gewebter Huipil durchnäßte ebenso wie Nonas khakifarbene Kleidung. Im Gegensatz zu den Bewohnern flohen sie jedoch nicht in eines der Häuser oder suchten Schutz unter einem anderen Dach. Der Regen war warm und ließ Nona erstmals seit ihrem Aufenthalt hier ihren Körper wieder richtig spüren.
Sie blieb stehen, bog den Kopf weit in den Nacken und schloß die Augen. Während dicke Tropfen auf ihre Stirn, Wangen, Lippen und Lider trommelten, sagte sie laut genug, daß Zapata, der neben
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