Der Fluch des Denver Kristoff
Windfurie ihnen gezeigt hatte. Brendan wollte nach dem Buch greifen, aber Cordelia war schneller.
»Wartet!«, schrie Eleanor. »Das ist gefährlich!«
»Reg dich ab«, erwiderte Cordelia. »Es ist nicht das Buch. Es hat zwar das gleiche Zeichen auf dem Umschlag, aber dieses hier ist schwarz, nicht dunkelrot. Siehst du? Und das Auge ist nicht eingebrannt, sondern aufgemalt.«
»Sieht aus wie ein Notizbuch«, stellte Will fest, der Cordelia über die Schulter spähte.
»Ich finde trotzdem, wir sollten nicht hineinsehen«, motzte Eleanor. »Es könnte eine Falle sein.«
»Wir müssen aber herausfinden, was drinsteht«, sagte Cordelia, holte tief Luft und schlug die erste Seite des Buches auf, die mit derselben Handschrift beschrieben war wie die Krankenakten. »Das ist eindeutig Rutherford Walkers Handschrift! Wir haben sein Tagebuch gefunden!«
»Notizbuch«, berichtigte Will, »Männer schreiben keine Tagebücher.«
»Ist doch egal – lies vor!«, drängte Eleanor.
Wie bei einer Lagerfeuerrunde setzten sie sich in einem engen Kreis um Cordelia und sie begann vorzulesen.
»›Zehnter April 1906. Liebes Tagebuch‹ …« Cordelia warf Will einen kurzen Blick zu; der verdrehte die Augen. »›Als ich heute Morgen aufwachte, drehte sich noch alles in meinem Kopf. Schuld daran ist sicher der Vortrag des bemerkenswerten Dr. Aldrich Hayes, dem ich gestern Abend beiwohnte.‹«
»Dr. Hayes! Von dem Kerl hat doch die Windfurie gesprochen!«, sagte Brendan.
»›Der Vortrag zum Thema Mythologie und Magie in der Geschichte der Kalifornier wurde seinem Titel mehr als gerecht. Schon Monate vorher hatte ich bei Séancen und in sämtlichen Salons der Stadt Gerüchte über diesen geheimen Vortrag gehört. Es hieß, er würde im Bohemian Club stattfinden, zu dem ich aufgrund meiner alles andere als aristokratischen Herkunft leider keinen Zutritt hatte. Ich fürchtete schon, dem berühmten Dr. Hayes niemals zu begegnen, der ja nicht nur ein hochgelobter Professor der Universität Yale, sondern Gerüchten zufolge auch Vorsitzender des Ordens der Wissenshüter ist.«
»Wissenshüter? Was ist das?«, fragte Eleanor.
»Das steht hier nicht«, sagte Cordelia. »Okay, wo war ich …«
»Hier.« Will tippte mit dem Finger auf die Textstelle, anscheinend hatte er mitgelesen. Cordelia lächelte und fuhr fort.
»›Als ich die Hoffnung schon aufgeben wollte, suchte mich mein lieber Freund auf, ein findiger Mann, der immer voller Ideen steckte: Denver Kristoff.‹«
»Kristoff! Du hattest recht, Deli!«, rief Brendan dazwischen. »Also hat unser Ururgroßvater ihn wirklich gekannt!«
»Lies weiter!«, drängte Eleanor.
»›Wie auch ich war Kristoff besessen von allen Erscheinungsformen des Okkulten. Er meinte, es sei ein Verbrechen, sich Dr. Hayes Vortrag entgehen zu lassen. Also heckte er einen ebenso verbrecherischen Plan aus, um uns beiden Einlass in den Bohemian Club zu verschaffen. Im Schutz der Dunkelheit schlugen wir in der Taylor Street Nummer sechshundertvierundzwanzig ein Kellerfenster ein und zwängten uns hindurch. Wir schlichen uns in den Vortragssaal und lauschten Dr. Hayes erstaunlichen Ausführungen.
Es war eine Abhandlung über zahlreiche Phänomene, die jeder »nüchtern« denkende Mensch als Hirngespinste abtun würde: die bislang noch unerforschten Kräfte der menschlichen Seele, die Existenz von Geistern und die magischen Orte Kaliforniens. Der aufregendste Moment für mich war, als er von einem magischen Ort sprach, der sich direkt vor unserer Haustür befindet: der Ziegeninsel.«
»Heißt das, wir haben wirklich eine Ziegeninsel vor unserer Haustür?«, fragte Eleanor.
»Das meint er nicht wörtlich«, erklärte Brendan. »›Vor unserer eigenen Haustür‹ bedeutet ›in unserer Stadt‹. Glücklicherweise kenne ich mich mit der Geschichte von San Francisco ziemlich gut aus.«
»Schon gut, Bren, das wissen wir!«, stöhnte Eleanor und Cordelia verdrehte die Augen.
»Diese frühere Ziegeninsel heißt heute Yerba Buena. Wenn man über die Bay Bridge fährt, kommt irgendwann ein Schild nach Treasure Island. Auf dem Weg dahin fährt man über Yerba Buena.«
Cordelia las weiter: »›Nach Aussage von Hayes lebte auf der Ziegeninsel einst das Volk der Tuchayune, ein Ureinwohner-Stamm, der seine Häuptlinge in aufrecht sitzender Haltung begrub.‹«
»Iih, wie gruselig«, quietschte Eleanor.
»›Die Tuchayune glaubten, auf dieser Insel sei die Grenze zwischen der menschlichen Welt und der Welt der
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