Der Fluch des Denver Kristoff
Geister besonders durchlässig; mächtige Kräfte der Unterwelt könnten sich hier auf die Erde schleichen und Chaos und Verwüstung anrichten. Um diese bösen Geister abzuschrecken, haben sie ihre Häuptlinge aufrecht sitzend unter einem Felsen begraben, der die Form eines Adlers hat. Dem konnten Kristoff und ich natürlich nicht widerstehen. Wir beschlossen, auf der Ziegeninsel nach den Grabstätten der Tuchayune zu forschen und so lange zu schaufeln, bis wir die Skelette der Häuptlinge finden!‹«
Cordelia klappte das Buch zu.
»Das war’s schon?«, fragte Eleanor.
»Hier endet dieser Eintrag«, sagte Cordelia.
»Cool, unser Ururgroßvater und Denver Kristoff waren Geisterjäger!«, sagte Eleanor stolz.
»Wohl eher Grabräuber«, bemerkte Will, »ohne einen Funken Respekt vor den Toten! Man stelle sich das vor! Einfach einen armen Kerl auszugraben, der ihnen nie etwas getan hat!«
»Du vergisst, in was für einer Zeit und Umgebung er lebte«, warf Brendan ein. »San Francisco war schon immer ein beliebter Ort für alle möglichen Freaks und Spinner. Als unser Ururgroßvater das geschrieben hat, waren spiritistische Sitzungen und Geisterjagden gerade ganz groß in Mode. Leute, die als Medium auftraten und behaupteten, sie könnten mit den Toten reden, waren so berühmt wie Rockstars.«
»Wie was?«, fragte Will irritiert.
»Der nächste Eintrag ist zwei Wochen später datiert«, sagte Cordelia und schlug das Buch wieder auf.
»›Vierundzwanzigster April 1906. Liebes Tagebuch. Die Tragödie, die unsere Stadt heimgesucht hat, ist zu groß und schrecklich und noch zu frisch, um sie in Worte zu fassen … somit kehre ich zurück zu der Geschichte der Ziegeninsel und der Rolle, die ich möglicherweise bei der schlimmsten Katastrophe unserer Zeit gespielt habe!‹«
»Wovon redet er?«, fragte Eleanor.
»Ich weiß es«, sagte Brendan eifrig, »er meint …«
Doch Cordelia ließ sich nicht unterbrechen.
»Pscht! ›Am siebzehnten April brachen Kristoff und ich bei Nacht und Nebel auf. Kristoff musste aus allem ein möglichst kompliziertes Abenteuer machen, also schlichen wir uns hinunter zum Embarcadero und stahlen ein Ruderboot, das dort auf den Wellen schaukelte. Dank meiner Seemannskunst gelangten wir sicher durch die gefährlichen Strömungen, die dort herrschen. Das Mondlicht machte die Nacht zum Tag. Wir wechselten uns mit dem Rudern ab und erreichten die Ziegeninsel ohne größere Zwischenfälle.
Ich nahm eine Karte zur Hand, die ich in einem Andenkenladen in Chinatown erworben hatte, darauf war der Adlerfelsen eingezeichnet. Wir schulterten unsere Schaufeln und stapften zwei Stunden querfeldein, bis wir die Stelle gefunden hatten. Die Spitze des Felsens bestand aus einem beinahe kunstvoll verwitterten Gebilde, durch welches das einfallende Mondlicht einen höchst seltsamen Schatten auf den Boden warf. Es ist unnötig, liebes Tagebuch, dass ich diesen Schatten beschreibe, denn ich habe ihn auf deinen Umschlag gezeichnet, sodass ein zukünftiger Forscher gleichermaßen von seiner Eigentümlichkeit berührt wird.‹«
Cordelia hielt den Buchumschlag hoch, sodass alle das Motiv noch einmal sehen konnten: ein mit wenigen Strichen gezeichnetes Auge.
»›Wir begannen zu graben. Nach vier Stunden hatten wir erst knapp eineinhalb Meter geschafft, als meine Schaufel plötzlich ohne einen Widerstand ins Leere stieß, als hätte ich eine Luftkammer getroffen. Kristoff ging es ebenso und plötzlich gab der Boden unter unseren Füßen nach!
Kristoff und ich landeten auf einem festgestampften Erdboden. Abgesehen von ein paar Kratzern und blauen Flecken waren wir unverletzt und entzündeten sogleich unsere Laternen. Wir befanden uns in einer runden Kammer von knapp zwei Metern Durchmesser, mit unebenen, wie von einem riesigen Insekt ausgehöhlten Wänden. Der Raum war kühl und trocken … und in der Mitte saß ein Skelett!
Kein Zweifel, es musste sich um einen der besagten Tuchayune-Häuptlinge handeln. Neben ihm lagen eine Flöte aus Vogelknochen und eine Säge, die wahrscheinlich aus dem Hüftknochen eines Koyoten geschnitzt war. Noch faszinierender war jedoch, was er in den Händen hielt: ein Buch. Ein lesendes Skelett! Die Ellbogen hatte es auf die Knie aufgestützt und es hatte einen Gesichtsausdruck, als staune es über den Inhalt des Buches! Als Kristoff ein Stück näher herantrat, erkannte er auf dem Umschlag das gleiche Symbol, das auch schon über der Erde das Mondlicht auf den Boden gezeichnet
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