Der Fluch des Florentiners
und düster wirkenden Gemäuer hinauf zu dem Zimmer. Ein kleines Schild an der Tür wies darauf hin, dass hier in dem gleichnamigen Zimmer einst Charles le Téméraire, eine der schillerndsten Persönlichkeiten des 15. Jahrhunderts, residiert hatte. Chrissie verdrehte die Augen und flüsterte: » Buuuh, hier gibt es bestimmt Gespenster – männliche Gespenster. «
Das Bett, in dem der Burgunderherzog und Souverän des Ordens vom Goldenen Vlies, Karl der Kühne, im März des Jahres 1476 genächtigt hatte, verschlug ihnen beiden die Sprache. Ein purpurfarbener Baldachin überspannte, von vier Holzpfosten getragen, das aus Eichenholz gezimmerte Hochbett, das schräg gegenüber eines traumhaft schönen, mit gelblichem Sandstein eingefassten, fast mannshohen Kamins stand. Die Gastgeberin hatte bereits ein Feuer gemacht. Der Geruch von brennendem Buchenholz durchzog den großen, mit Holzparkett ausgelegten Raum, in dessen Mitte ein antiker Holztisch mit sechs Stühlen stand. Neben dem mit rotem Samt bezogenen Sessel am Erkerfenster stand eine Ritterrüstung. Im Zwielicht des Feuers und der spärlichen Beleuchtung zweier Wandlampen waren in Deckenhöhe mittelalterliche Wandmalereien zu erkennen. Eine alte, handkolorierte Landkarte des einstigen burgundischen Reiches hing neben der Eingangstür. Marie-Claire war fasziniert. Die wohlige Wärme des Feuers und das gespenstisch-romantische Ambiente dieses Raums ließen ihr Gänsehaut über den Rücken laufen.
» Ist das nicht toll, Chrissie? Wunderschön! Wie im Mittela l ter! Ein Bett wie in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht – in einem verwunschenen Schloss! Genau der richtige Ort, um sich in alte Bücher über kühne Ritter zu vergraben – und von mystischen Prinzen und legendären Diamanten aus dem Mo r genland zu träumen! Es ist … «
Ihr Handy läutete. Wie elektrisiert schaute Marie-Claire fragend ihre Freundin an. Dann blickte sie auf die Armbanduhr. Es war fast zehn Uhr. Wer rief sie so spät am Abend noch an? Die Nummer auf dem Display kannte sie nicht, aber es war eine Schweizer Vorwahl.
» Warum nimmst du das Gespräch nicht an? «, zischte Chrissie. Marie-Claire konnte die großen, fragenden Augen ihrer Freundin im Schein des Feuers sehen. Dann verstummte das Läuten des Handys. Marie-Claire stand noch immer wie angewurzelt neben dem Kamin. Nervös fingerte sie nach einer Zigarette und zündete sie zitternd an.
» Was ist denn los? « Chrissie sprach ungewöhnlich leise.
» Abdel …? «
» Nein, viel schlimmer! «, antwortete Marie-Claire. » Es war mein personifiziertes Karma! Ich bin mir sicher. Ich spüre, dass er es war. Und ich frage mich, ob es solche Zufälle geben kann, Chrissie! Hier, in diesem Raum, schlief vor mehr als fünfhundert Jahren jener legendäre Burgunderherzog, der vermutlich als erster Europäer den Florentiner besessen hat. Den Kleinen und den Großen Sancy auch! Er trug den Florentiner nicht seines unvorstellbaren Wertes wegen, sondern im Glauben, dass ein solcher Edelstein seinen Besitzer unschlagbar und unsterblich machen würde. Denn die Bezeichnung Diamant, das wusste Karl der Kühne, kommt aus dem Griechischen adamas – der Unbezwingbare! Aber der Stein brachte ihm, dem bis dahin unschlagbaren Feldherrn, de m H erausforderer des französischen Kaisers und des deutschen Kaisers Friedrich III., kein Glück! Die mystische Macht der göttlichen drei Brüder, wie er den Kleinen Sancy, den Großen Sancy und den späteren Florentiner nannte, ließ seine Macht nach den drei Schlachten von Grandson, Murten und Nancy binnen weniger Monate zerbrechen. Die Legende sagt, dass er die drei Diamanten hier unterhalb dieses Schlosses verlor – auf der Flucht vor Schweizer Heeren. Wenige Monate später gab es kein Burgund mehr. Er selbst war tot: von Schweizer Lanzen bei Nancy durchbohrt, sein im See eingefrorener Leichnam von Wölfen zerfleddert. Und kaum bin ich hier in diesem Raum, ruft er an. «
Christiane Schachert unterbrach ihre Freundin. » Hörst du jetzt auf, so mystischen Quatsch zu reden! Kein Auge mache ich hier in diesem Bett zu, wenn du so redest. Sag mir lieber, wer da angerufen hat. «
» Das ist kein mystischer Quatsch, meine Liebe! Das ist Furcht erregender Ernst! Hier, in diesem Ch â teau de Vaumarcus, begann die Legende des Florentiner-Diamanten. Der Edelstein hieß damals noch nicht so. Aber der Fluch jenes Diamanten, hinter dem ich und offensichtlich auch andere nun her sind, begann genau hier in diesem
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