Der Fluch des Florentiners
Wiedersehen mit Abdel musste erst einmal warten.
Auf ihrem Schreibtisch lagen Stapel von Unterlagen und mehrere Bücher, die sie lesen musste – alles Material zum Florentiner. Niemand erwartete von ihr, dass sie den Florentiner aufstöbern, den derzeitigen Besitzer ausfindig machen würde. Nein, ihre Aufgabe war lediglich, die Historie des Diamanten zu recherchieren, herauszufinden, worin das Interesse von Gregor, Abdel – und vielleicht auch von Sanjay an diesem Diamanten lag. Die Geschichte des Diamanten sollte sie eruieren. Mehr nicht. Bislang war sie nur von einem Abenteuer ins nächste gestolpert. Jetzt galt es, endlich den Bericht zu schreiben, den Francis von ihr erwartete. Morgen früh würde sie in die Schweiz fliegen. Dort hoffte sie, die Ruhe zu finden, die sie für das Schreiben des Berichts brauchte. Francis Roundell hatte ihr eine E-Mail geschickt und ihr einen Abgabetermin gesetzt. In einer Woche musste ihr Bericht dem Board of Directors in London vorliegen. Danach erst würde sie darüber nachdenken, wann sie Abdel Rahman wiedersehen wollte und ob es gut für sie sein würde, ihn wiederzusehen. Über Nacht war etwas hinzugeko m men, das sie nur schwe r e inordnen konnte. Gestern noch hatte sie sich vorgenommen, egoistisch zu sein, sich zu nehmen, von Abdel Rahman zu nehmen, was sie haben wollte. Für eine Nacht haben wollte. Das war misslungen. Dieser Araber war näher an ihr wahres Ich heran gekommen, als ihr das lieb war.
Als sie gegen zehn Uhr ihren Computer ausschaltete, fiel ihr Blick auf einen Stapel Dokumente auf ihrem Schreibtisch. Hatte sie den Umschlag mit der Kopie der handschriftlichen Aufzeichnungen von Alphonse de Sondheimer gestern Morgen nicht verschlossen? Gestern hatte sie noch nicht gewusst, dass Abdel Rahman in ihre Wohnung kommen würde. Aber er war da gewesen. Die ganze Nacht. Sie hatte nicht einmal bemerkt, wann er aufgestanden und aus der Wohnung gegangen war. Plötzlich bekam Marie-Claire de Vries Angst. Auf dem Schreibtisch in ihrem Arbeitszimmer lag nicht nur das Manuskript zum Buch über die Vitrine XIII. Da lagen auch die Bücher über Marie-Antoinette, über die Medici und über Karl den Kühnen und die Ritter vom Goldenen Vlies. War Abdel in ihrem Arbeitszimmer gewesen? Hatte er …?
» Merde, Merde! «, fluchte sie. » Der Typ hat dir den Verstand aus dem Hirn ge …! Der Scheißkerl hat schon wieder in deinen Unterlagen geschnüffelt. Was, verdammt noch mal, will er? «
17. Kapitel
C
h âteau de Vaumarcus war in dichten Nebel gehüllt. Vom Lac de Neuchâtel konnte Marie-Claire de Vries nur erahnen, dass es rechts von ihr lag. Sie war müde und mürrisch. Ihre Freundin Christiane saß auf dem Beifahrersitz und starrte angespannt auf die Fahrbahn, von der mit Einbruch der Dunkelheit kaum mehr etwas zu sehen war. Eine unwirtliche Ruhe umgab sie.
» Ich habe die Nase gestrichen voll! «, murrte Marie-Claire.
» Für die zweihundert Kilometer von Zürich bis hierher haben wir jetzt fast fünf Stunden gebraucht. Von Bern habe ich außer einem Autobahnschild nichts gesehen. Dass es hier Ber ge gibt, weiß ich nur aus Büchern. Und außerdem habe ich unglaublichen Hunger. «
Christiane Schachert blickte missmutig in die in Nebel gehüllte Umgebung.
» Und mir ist schlecht! Ich hasse es, im Nebel Auto zu fahren. Dieses verfluchte Schloss muss doch jetzt irgendwann kommen. Eben sind wir an Grandson vorbeigefahren. Laut Karte sind es bis zur Schlossauffahrt dann noch drei Kilometer. Ic h h offe nur, dass wir die nächsten Tage nicht so ein mieses Wetter haben. Dann kündige ich dir die Freundschaft. «
» Und ich werde nie wieder ad hoc Kurzurlaub auf einem Schloss in der Schweiz machen – jedenfalls nicht im Dezember! «
Marie-Claire meinte das ernst. Längst bereute sie, all ihre Bücher und Unterlagen über den Florentiner eingepackt und nach Zürich geflogen zu sein. Aber diese verwirrend-schöne Nacht mit Abdel Rahman hatte sie völlig aufgelöst zurückgelassen. Das Einzige, zu dem sie noch fähig gewesen war, war zu fliehen. Ihre Entscheidung, nach Grandson zu fliegen, war innerhalb weniger Stunden gefallen. Sie war nur froh, dass Chrissie ohne lange zu überlegen bereit gewesen war mitzukommen. Doch die Reise hin zu jenem Ort in der Schweiz, an dem der Florentiner, aber auch der Kleine und der Große Sancy zum ersten Mal in der Geschichte des Abendlandes offiziell genannt worden waren, hatte sich schnell als schwierig herausgestellt. Der Abflug von Wien
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