Der Fluch des Florentiners
immer deutlicher wahr, dass er ein sehr attraktiver Mann war. Seine Attraktivität zeigte sich nicht in Äußerlichkeiten. Sie erwuchs aus der Einheit seines Charmes mit seinem Charisma und seiner unendliche innere Stärke signalisierenden Körperhaltung. Alles, was Sanjay war, kam von innen. Marie-Claire überkam eine wunderbare Ruhe, eine Ausgeglichenheit, die sie gehofft hatte hier in Grandson zu finden. Sie erschrak ein wenig, als sie an die zurückliegenden Wochen dachte. Drei Männer waren in kürzester Zeit in ihr Leben getreten. Gregor von Freysing hatte sie nach den G e schehnissen am Wörthersee zwar noch einmal angerufen. Indirekt hatte er eingestanden, dass er etwas überreagiert habe, aber für sie hatte es halbherzig geklungen. Die unüberbrückbare Kluft, die seit dem Wochenende am Wörthersee zwischen ihnen bestand, war am Telefon schnell spürbar geworden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass sich hinter der Fassade des charma n ten und gebildeten Grandseigneurs in Wirklichkeit doch ein erzkonservativer Mann verbarg, dessen Lebenseinstellung so gar nicht mit ihrer eigenen in Einklang zu bringen war. Zudem irritierte sie nach wie vor seine undurchschaubare Verbindung zu den ultrakonservativen Rittern vom Goldenen Vlies. Sei n p lötzliches Desinteresse am Florentiner war ebenfalls verwu n derlich. Angeblich hatten seine Auftraggeber ihn angewiesen, ab sofort jegliche Recherche über den Verblieb des Diamanten einzustellen. Man wollte sich von den kriminellen Geschehni s sen um den Florentiner distanzieren. Marie -C laire fiel es schwer, ihm zu glauben. Nach diesem Telefonat hatte sich Gregor nicht mehr gemeldet. Auch von Abdel Rahman hatte sie seit ihrer gemeinsamen Nacht in Wien nichts mehr gehört. So überraschend, wie er in ihr Leben getreten war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Sie machte sich darüber seltsame r weise keine Gedanken mehr. Sein Versuch, das Buchmanuskript zu erwerben, war fehlgeschlagen. Wahrscheinlich war er deshalb längst wieder abgereist. Die Nacht mit ihr war für ihn offenbar nichts anderes als ein nettes Abenteuer gewesen. Nein, sie dachte nicht mehr an diese beiden Männer, schob die Gedanken an die Turbulenzen der letzten Zeit beiseite. Sanjay strahlte eine derart faszinierende Ruhe aus, dass sie am liebsten eine Mauer um sich herum gebaut hätte, um sich vor jeglichen irritierenden Einflüssen zu schützen. Gemeinsam mit Sanjay wollte sie diese Ruhe auskosten. Erneut spürte sie, dass dieses Verlangen keinerlei sexuellen Aspekte in sich barg.
Chrissie, einfühlsam wie sie war und so schwer es ihr wahrscheinlich gefallen war, hatte sich unter dem Vorwand, dass sie sich nicht wohl fühle, zum Schloss fahren lassen. Marie-Claire hätte sie dafür umarmen können. Sie hatte sehr wohl bemerkt, wie vernarrt Christiane in Sanjay war. Aber Chrissie hatte schnell erkannt, dass Marie-Claire sich danach sehnte, mit Sanjay alleine zu sein, und dass sie störte. Sie hatte für sich entschieden, jegliches Misstrauen gegenübe r S anjay Kasliwal fallen zu lassen. Während des Mittagessens war sie zu dem Schluss gekommen, dass er ihr in Berlin doch die Wahrheit erzählt hatte. Er reiste durch Europa auf der Suche nach antiken Büchern, nach alten Quellen – nach allem, was seine Neugier an den religiös-mythologischen Aspekten von Edelsteinen stillen konnte. Und er war von dem Wunsch beseelt, die drei Diamanten, die Tränen Gottes aus jener legendären Statue wieder nach Indien zurückzubringen.
Sanjay Kasliwal hatte mit seiner Arbeit als Schmuckhändler viel Reichtum angehäuft, aber dennoch schien Geld nicht das Wichtigste in seinem Leben zu sein. Darin schien er sich von seinem Bruder Pappu zu unterscheiden, von dem er soeben erzählte. Marie-Claire hatte Pappu Kasliwal damals in Berlin im Wintergarten des Hotels nur kurz zusammen mit Sanjay erlebt. Er hatte auf sie den Eindruck eines eher unscheinbaren Mannes gemacht. Lediglich sein unsteter, nervöser Blick war ihr aufgefallen. Allerdings hatte sie damals bereits das Gefühl gehabt, dass die beiden Brüder sich nicht besonders gut verstanden. Die einzige Gemeinsamkeit, die sie zu haben schienen, war das Polospiel. Sanjay sah nachdenklich aus, während er über seine Familie in Indien und über sein Verhältnis zu Pappu sprach.
» Pappu ist anders als ich, Marie-Claire. Die Götter haben ihm die Gier als Bürde für sein Leben in die Wiege gelegt! Seine Geschäftsmethoden sind sehr umstritten. Er ist sehr
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