Der Fluch des Florentiners
beantworten? Oder Abdel Rahman? Oder wusste Sanjay Kasliwal, was damals geschehen war? Wusste der Inder, wo der Florentiner jetzt war? Wenn ja, warum gab er dann vor, ihn zu suchen? Das Handy klingelte und riss sie aus ihrer Begeisterung und Aufgeregtheit heraus. Missmutig schaute sie auf das Display. Es war wieder diese Wiener Nummer, die ihr nichts sagte.
» Jetzt geh schon ran «, flüsterte Christiane ihr zu und kicherte. » Vielleicht ist es ja Abdel Rahman! Oder Gregor. Die warten auf dich in Wien! Dann kannst du mir ja den Inder überlassen … «
Marie-Claire nahm das Gespräch an. Sie erkannte die Stimme sofort. Es war Christoph, Cathrines Mann. Sie hatte lange nichts von ihm gehört und noch länger nicht mit ihm gesprochen. Sie mochten sich nicht. Und ganz offensichtlich mochte Cathrine ihn auch nicht mehr.
Bevor Marie-Claire sagen konnte, dass sie sehr beschäftigt sei und nicht mit ihm sprechen könne, schlug ihr ein wahrer Wortschwall entgegen. Christoph war sehr aufgeregt. Seine Stimme überschlug sich beim Sprechen. Während sie den Worten ihres Schwagers zu folgen versuchte, liefen ihr plötzlich Tränen über die Wangen. Sie zitterte am ganzen Körper. Das Handy fiel ihr aus der Hand. Christiane sprang erschrocken auf.
» Um Himmels willen, was ist denn los? Warum weinst du? Du zitterst ja am ganzen Körper! Jetzt sag schon. «
» Das war der Mann meiner Schwester. Er ist völlig aufgelöst. Cathrine ist weg – verschwunden! Er sagt, sie habe ihn völlig überstürzt verlassen, hat nur den Pass mitgenommen, ist mit einem Araber weggeflogen – nach Marrakesch. «
19. Kapitel
K
r iminalhauptkommissar Bernhard Kleimann wusste nicht, was er tun sollte. Seinem italienischen Kollegen Gianfra n co Moreni ging es nicht anders. Die beiden Interpol-Beamten saßen auf der Dachterrasse eines Cafés am Djema el Fna in Marrakesch und starrten schon seit geraumer Zeit auf das bunte Treiben unten auf dem Marktplatz. Die untergehende Sonne strahlte das quadrat i sche Minarett der nahen Kutubiya-Moschee an, des im 12. Jahrhundert erbauten Symbols der machtvollen Ausde h nung des Almohadenreiches. Die goldenen Kugeln auf dem Dach der Moschee reflektierten die Sonnenstrahlen. Unten auf dem Marktplatz herrschte reges Treiben. Zwischen den Ständen der Obst- und Gemüseverkäufer drängten sich Me n schenmassen. Verhüllte muslimische Frauen in ihren traditionellen langen Kleidern, aber auch junge Mädchen in kurzen Röcken gingen von Stand zu Stand. Das allgegenwärtige Nebeneinander von Tradition und Moderne gefiel Kleimann an Marrakesch. Hier, unmittelbar an den Souks der Altstadt gelegen, auf dem » Platz der Gehängten «, auf dem früher Rechtsbrecher öffentlic h h ingerichtet wurden, zeigte sich der Facettenreichtum dieser Oasenstadt am Fuße des schneebedec k ten Hohen Atlas. Hier prallten lärmend und farbenprächtig mehrere Welten aufeinander: Wasserverkäufer mit riesigen Messingbehältern auf dem Rücken, ausstaffiert mit roten Pluderhosen, den Kopf bedeckt mit breitkremp i gen Hüten, versuchten zu verkaufen, was in diesen Dezembertagen bei kaum mehr als achtzehn Grad ni e mand brauchte; Hökerer und Quacksalber, Schlangenbeschwörer und Geschichtenerzähler zogen die Marktbesucher in ihren Bann. Akrobaten wirbelten durch die Lüfte und beeindruckten ihre Zuschauer mit waghals i gen Flickflacks; der Geruch und Rauch der unzähligen Garküchen hing über dem Geschehen. Das war das traditionelle, farbenfrohe und sehr exotische Marokko, von dem er anfänglich geglaubt hatte, es werde nur für Touristen aufrechterhalten. Doch sein marokkanischer Kollege Khalid Semouri hatte ihm glaubhaft versichert, dass dies keine aufgesetzte Touristenshow, sondern marokkanischer Alltag sei. Ein Alltag, zu dem die Repräsentanten des Maroc Nouveau ebenso gehörten. Die gestylten jungen Männer ließen ihre auf Femme fatale zurech t gemachten Freundinnen in den bauchfreien Jeans mit Vorliebe direkt vor den Cafés rund um diesen Platz vor den Augen der greisen Marktweiber aus den sündhaft teuren Kabrioletts steigen. Es war ein faszinierender Platz, und wann immer es ihm möglich war, ging er von seinem nahe gelegenen Hotel aus hierher, um auf dieser Dachterrasse zu sitzen und das bunte Treiben zu beobachten. Ja, diese Stadt gefiel ihm. Sie sprühte vor Leben. Die zehn Kilometer lange, in der Morgen- und Abendsonne ockerfarben erstrahlende Stadtmauer umringte und behütete eine Welt, die nach anderen als im nahen
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