Der Fluch des Florentiners
gar nicht deaktiviert hatte. Er hatte ihr den Slip einfach zerrissen.
Das kleine schwarze Gerät war aufs Bett gerutscht, ohne zu explodieren. In diesem Augenblick hatte Georg von Hohenstein mit Entsetzen erkannt, dass dieses Gerät eine Attrappe war. Mehr nicht. Und von diesem Moment an wollte er wieder leben – leben, um sich zu rächen.
Mit diesem Hass, mit dem unbändigen Wunsch zu töten, raste er nun in seinem Range Rover hinter den Männern her. Er hoffte, dass er sie einholen würde, bevor die von ihm telefonisch alarmierten Polizisten auftauchten.
» Ich töte dich – ich töte euch! «, schrie er erneut. Dann sah er hinter der nächsten Kurve die beiden Fahrzeuge. Keine dreihundert Meter entfernt. Sie fuhren waghalsig schnell, aber er war schneller. Der Range Rover schlidderte bedrohlich aus der Kurve heraus über den Grünstreifen am Fahrbahnrand. Das Allradfahrzeug fing sich und schoss talwärts. Die Fahrzeuge vor ihm gerieten plötzlich ins Schlingern, blieben abrupt fast quer auf der schmalen Straße stehen. Er sah die Reifen qualmen. Dann sah er die zwei Polizeifahrzeuge, die Straßensperre, sah, wie das hintere Fluchtfahrzeug den Rückwärtsgang einlegte, dann aber wieder scharf bremste, weil der Fahrer wohl den Range Rover hinter sich gesehen hatte.
Erstaunt stellte Freiherr Georg von Hohenstein fest, dass er nicht aufgeregt war. So wie auf der Jagd. Auf der Pirsch war er nie aufgeregt. Er war ein guter Jäger.
Jetzt war er nahe genug an den Fahrzeugen, um erkennen zu können, dass in dem hinteren Wagen, einem BMW, nur ein Mann saß. Davor war das Heck eines japanischen Geländewagens zu sehen. Er ahnte – wusste es plötzlich. In dem BMW saß der schmächtige Araber! Langsam manövrierte er seinen Range Rover seitlich auf die Straße, griff nach seinem Jagdgewehr, richtete es auf den hinteren Wagen. Er atmete ruhig durch, visierte über das Fadenkreuz des Zielfernrohrs den Hinterkopf des Mannes am Steuer an. Der Fahrer trug keine Kapuze mehr. Ja, er war es! Groß und klar konnte er das Profil des Mannes sehen. Der Mann in dem anderen Fahrzeug wandte sich jetzt nach hinten, blickte durch das getönte Heckfenster und sah den Range Rover. Freiherr Georg von Hohenstein sah ihn, sah das Gesicht des Vergewaltigers groß, blass und matt inmitten des Fadenkreuzes, sah seine Augen und sah, dass der Araber wusste, was geschehen würde.
E in Schuss hallte durch das Tal. Kurz, bellend, trocken – tödlich. Der BMW schoss mit aufheulendem Motor über den Straßenrand, überschlug sich am Hang mehrmals und blieb auf dem Dach liegen. Der japanische Geländewagen davor raste davon, querfeldein, über die Wiese in Richtung des Waldrandes.
Es dauerte lange, unendlich lange, bis die nächsten Schüsse durchs Tal hallten, bis die Männer hinter den Polizeifahrzeugen hervorsprangen. Die Polizisten schossen. Aber sie trafen den über die Felder davonrasenden Wagen nur am Heck. Freiherr Georg von Hohenstein folgte dem Fluchtfahrzeug durch das Zielfernrohr hindurch. Er sah die wenigen Einschläge der Polizeikugeln am Heck des Fahrzeugs, wusste, dass die Neun-Millimeter-Geschosse auf diese Entfernung keinen großen Schaden anrichten konnten. Sein Zielfernrohr schwenkte hin zum Fahrerfenster. Er sah einen der breitschultrigen Araber am Lenkrad. Die anderen zwei Männer hatten sich im Fahrzeug weggeduckt.
Sein Zeigefinger tastete nach dem Abzug des Jagdgewehrs. Die linke Schläfe des Arabers am Lenkrad war jetzt mitten i m F adenkreuz. Aber Freiherr Georg von Hohenstein schoss nicht. Tränen rannen auf das Glas des Zielfernrohrs. Die Silhouette des Fahrers verschwamm vor seinen tränenerfüllten Augen, wurde kleiner und verschwand im Wald.
*
Vor dem Tod hatte Leonardo Frattini keine Angst. Doch dass sein missratenes Leben jetzt in Florenz, fern seiner Heimat Sardinien, enden würde, gefiel ihm nicht. Und es enttäuschte ihn maßlos, dass es so schnell gehen würde. Andererseits, dachte er sich, so schlecht ist es nun auch wieder nicht, als verarmter sardischer Hirte im weltberühmten Palazzo Pitti zu sterben.
Seine allerletzten Gedanken, jene Augenblicke, die zwischen dem erstaunten Blick auf den davonlaufenden Jungen und der Explosion lagen, kreisten daher nicht um das Entsetzen über den Tod. Er hatte in seiner Zeit bei der französischen Fremdenlegion im Krieg in Algerien so viel Totes, tote Menschen, verendete Tiere, leblose Landschaften und abgestorbene Gefühle gesehen, dass ihn das nicht mehr
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