Der Fluch des Florentiners
Museumswärter im Palazzo Pitti in Florenz, tot. Glasfragmente der explodierenden Vitrine trennten seinen Kopf ab. Die zweite Detonation am Fenster schleuderte seinen Rumpf quer durch den Raum, neben eine japanische Touristin. Sie war jung und sehr schön. Auch sie war tot. Leonardo Frattinis Kollege Vincenzo lebte noch, weil er sic h n icht über die Vitrine gebeugt, sondern sich auf den Boden hatte fallen lassen. Ihm fehlte nur der rechte Arm. Die Alarmanlage schrillte nicht mehr, dafür schrien die Menschen umso mehr. Überall war Blut und Glas und Gold. Ein wunderschönes Diadem mit vielen blau und rot funkelnden Steinen lag nahezu unbeschädigt auf einer toten dicken Frau, die sehr ärmlich gekleidet war. Riesige Gemälde mit goldenen Prunkrahmen hingen zerfetzt von den Wänden herab. Zwischen den kreischend und stöhnend umherirrenden Menschen und inmitten der Trümmer kullerten schöne, bunte Edelsteine auf dem Marmorboden herum. Deformiertes Geschmeide türmte sich zu kleinen Haufen auf. Dutzende haselnussgroße Perlen rollten wie Murmeln durch den Raum. Ohne Fassung sahen sie irgendwie wertlos aus. Der Museumswärter Vincenzo di Lucca lag am Boden und fühlte nichts. Sein zweiter Arm baumelte ziemlich skurril an seinem Oberkörper. Seine Beine waren seltsam verdreht. Er fühlte sich wie tot, aber er lebte. Und daher konnte er am Boden liegend sehen, dass der arabische Junge plötzlich wieder da war. Der sehr unschuldig aussehende Knabe wühlte zielstrebig in dem Schutt herum und fingerte aus dem Schatzmüll einen walnussgroßen, schön geschliffenen gelblichen Stein hervor. Vincenzo di Lucca wusste, dass es ein Brillant war. Er war erst vor wenigen Tagen als Leihgabe eines Privatsammlers nach Florenz gekommen. Ein berühmter Brillant: der in Form eines Pfirsichkerns geschliffene Große Sancy. Kardinal Mazarin hatte ihn einst König Ludwig XIV. geschenkt. Maria de Medici trug ihn vor dreihundert Jahren besonders gerne zusammen mit dem Kleinen Sancy und dem Florentiner. Der arabische Junge hielt den funkelnden Edelstein hoch , begutachtete ihn vermeintlich wissend, schritt zum zerborstenen Fenster, lehnte sich über die Brüstung und winkte irgendjemandem auf dem Lieferantenparkplatz am Ende der Via de Bardi zu. Bedächtig griff der Junge unter seinen Kaftan, zog eine Steinschleuder mit schwarzem Gummizug und lederner Lasche hervor, legte den Großen Sancy ein, zog die Schleuder und katapultierte den Brillanten aus dem Fernster hinaus und hinab in den Park vor dem Palazzo Pitti. Dann setzte sich der Kleine mit dem Rücken zur Wand auf den Boden, ließ die Steinschleuder fallen und schaute hinüber zu Vincenzo. Es sah nicht so aus, also tue ihm der Museumswärter, der nur noch einen Arm hatte, Leid. Den Anblick des toten Leonardo Frattini, aus dessen Torso noch immer Blut im abflachenden Rhythmus des Herzens hervorquoll, vermied er jedoch.
2. Kapitel
D
a s Telefon klingelte, kaum dass Marie-Claire de Vries ihr Büro betreten hatte. Sie schaute auf die Uhr. Punkt neun. Die Durchwahlnummer auf dem Telefon-Display zwang ihr einen Fluch auf die Lippen.
» Merde, was will die Sicherheitsabteilung aus London schon so früh am Montagmorgen …? «
Missmutig griff sie nach dem Hörer. Nur wenige Minuten später wusste sie, warum Francis Roundell sie angerufen hatte. Vier kurze Sätze hatte der für internationale Sicherheitsfragen im Auktionshaus Christie ’ s zuständige Deputy Chairman im Direktorium der Zentrale in London ihr am Telefon gesagt.
» Sorry, Marie-Claire, aber Ihr Urlaub ist tatsächlich zu Ende! Ich bin zum Lunch bei Ihnen in Wien. Lassen Sie alle anderen Termine streichen. Bestellen Sie für halb eins einen ruhigen Tisch im Landtmann. «
Warum Francis jedes Mal, wenn er nach Wien kam, in dieses ihrer Meinung nach an wienerischer Arroganz, ewiggestrigem K.u.k.-Dünkel und Biedermeiermobiliar erstickend e C afé wollte, war ihr schleierhaft. Das mit Kirschbaumholz getäfelte, grauenhaft enge und dennoch permanent überfüllte Lokal neben dem Burgtheater war ihr persönlich zuwider. Manchmal glaubte sie, Francis beharre nur auf diesem Café als Treffpunkt für dienstliche Gespräche, weil er hier all seine Vorurteile gegen die ihm nicht sonderlich sympathischen Wiener bestätigt bekam. Er mochte Österreich, aber die Wiener mochte er nicht. Vielmehr schien er geradezu auf eine Gelegenheit zu warten, seine Aversionen gegen den arrogant-wienerischen Dünkel kundzutun. Dafür war das Café Landtmann
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