Der Fluch des Florentiners
ein idealer Ort. Dort traf sich jenes Wien, das gesehen werden wollte und im Bewusstsein lebte, gesehen werden zu müssen. Die Nähe zur Hofburg, zum Rathaus und die unmittelbare Nachbarschaft zum Burgtheater zog die vermeintliche Hautevolee der Stadt an wie Honig die Bienen.
Auch an diesem sonnigen Novembermittag war die Terrasse des Cafés überfüllt. Wie überall in der Stadt hatte der extrem milde November die Kaffeehausbesitzer veranlasst, Tische und Stühle draußen stehen zu lassen. Marie-Claire blieb einen Moment stehen, warf einen Blick über die Schar der Besucher. An einem Tisch saß ein ihr oberflächlich bekannter Feuilleton-Journalist der Kronenzeitung. Die Frau neben ihm war sehr dick und hatte sich wie ein Pfau aufgeplustert. Irgendwie war ihr anzusehen, dass sie am Abend zuvor im Burgtheater auf der Bühne gestanden hatte. Sie tat sehr wichtig, was sie aber offensichtlich nicht war, denn der verschwitzte Kellner mit dem pomadigen Haar und jener eigentümlichen, Wiener Kellnern scheinbar angeborenen Borniertheit ignorierte ihr Winken. Stattdessen ließ er einer alten Frau mit nur noch wenigen grauen Haaren auf dem Kopf über dre i T ische hinweg ein schleimiges » Grüß Gott, Frau Kommerzialrätin – wie ist das werte Wohlbefinden, gnädige Frau … « z ukommen.
Zwei Tische weiter saß eine fürs Landtmann viel zu provokant gestylte Frau in einem sehr weit über ihre Oberschenkel hochgerutschten, hautengen Kostüm. Sie schielte in Richtung eines am Nebentisch Sekt-Orange schlürfenden Beaus mit zartrosa Hemd und einem perfekt dazu passenden, leger über die Schultern gelegten, eierschalfarbenen Pullover.
Marie-Claire lächelte süffisant. Von ihrem Büro in der Herrengasse Nummer 17 bis hierher waren es nur wenige Schritte. Wann immer ihre Zeit es erlaubte, ging sie bei schönem Wetter vorbei am Palais Lichtenstein, weiter zum Café Landtmann und von dort in den Volksgarten. Oder sie schlenderte hinüber in den idyllischen Park vor dem Rathaus, wo sie unter den prachtvollen, uralten Bäumen Zeitung las oder sich auf die Wiese legte und döste.
Marie-Claire schaute auf die Uhr. Es war schon Viertel vor eins. Francis Roundell sollte kurz vor zwölf planmäßig in Schwechat landen. Wahrscheinlich saß er schon im Café. Ihr Blick wanderte noch einmal zu der ein wenig ordinär aussehenden Frau in dem engen Kostüm mit dem waghalsigen Dekolleté. Sie hielt jetzt einen Zigarillo zwischen Zeigefinger und Mittelfinger und wühlte ostentativ in ihrer Handtasche. Der Beau am Nebentisch ahnte offensichtlich, dass sie hoffte, er würde ihr Feuer geben. Er tat ihr den Gefallen nicht. Stattdessen versteckte er sich hinter der Speisekarte, ignorierte die Blicke der Gucci-Schönheit und zeigte nur noch seine perfekt manikürten Finger am Zeitungsrand. Seine braun gebrannten Hände und Unterarme ließen Marie-Claire de Vries erahnen , dass er zu lange unter der Höhensonne gelegen hatte. In Wien, so hatte sie mit Genugtuung nach der Rückkehr aus ihrem Urlaub am gestrigen Abend erfahren, hatte es in den letzten zehn Tagen fast nur geregnet. Sie schmunzelte vor sich hin und wollte gerade zum Eingang des Cafés gehen, als Francis Roundell mit einem Taxi vorfuhr. Er stieg aus, zog einen kleinen Handkoffer hinter sich aus dem Fond und schritt zielstrebig auf sie zu.
» Marie-Claire «, ließ er seine markante Stimme über die Terrasse hallen, » Sie sehen umwerfend aus! Sie werden immer schöner. «
Die Köpfe von gut zwei Dutzend Gästen auf der Terrasse flogen herum. Marie-Claire de Vries errötete. Francis war ein unverbesserlicher Charmeur, was vielleicht mit seiner französischer Abstammung zu erklären war. Seine Komplimente waren schnörkellos und ehrlich. Was er sagte, meinte er.
» Sie wissen, Francis, dass Sie mich verunsichern, wenn Sie so flirten «, lächelte Marie-Claire de Vries und streckte dem Mann mit den Augen eines Jagdterriers ihre Wange entgegen. Diese braunen, lebhaften Augen waren Francis Roundells Markenzeichen. Jeder bei Christie ’ s nannte ihn deshalb de n » Terrier «, denn das war er, zumindest in seinem Beruf als Sicherheitschef: ein Terrier. Gertenschlank, groß gewachsen und mit eingefallenen Wangen wirkte er zwar stets ein wenig kränklich, aber Francis Roundell war unglaublich zäh und beharrlich. Er hatte einen ausgesprochen analytischen Verstand und war ein passionierter Edelsteinexperte. Das hatte ihm den Karrieresprung vom Beamten bei Interpol zum Sicherheitschef im
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