Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
»Lysaer?«
Das verängstigte, hysterische Kind rannte zu seiner Mutter und barg sein Gesicht an ihrer warmen Brust. Der Knabe fühlte, wie sie zitterte, während sie ihn im Arm hielt. Durch den Stoff ihres Gewandes gedämpft, hörte er seinen Vater etwas sagen. Dann wurde die Tür zugeschlagen. Die Königin schob Lysaer ein Stück weit weg und strich ihm über das Haar, das so hellblond wie ihr eigenes war.
Sie küßte ihn auf die Wange. »Es ist alles in Ordnung, mein Kleiner.«
Aber Lysaer wußte, daß sie log. In dieser Nacht verließ sie Amroth, und sie kehrte niemals zurück …
Mit einem Klirren gleich dem Splittern von Kristall erschien die Segelkammer wieder vor seinen Augen. Lysaer erschauderte. Zu plötzlich hatte sich seine Wahrnehmung verändert. Tränen rannen über sein Gesicht. Die Wut über den Betrug seiner Kindheit ließ ihn zwei Dekaden innerer Reifung vergessen, und in diese Wunde, in diesen lange vergessenen Strudel des Leids, schickte Arithon s’Ffalenn seine Schatten.
Ein Bild erschien vor dem Prinzen auf Deck. Die hölzernen Planken verwandelten sich in seidene Laken, auf denen zwei Gestalten ineinander verschlungen lagen, nackt. Lysaer fühlte seinen eigenen Atem wie Feuer an seiner Kehle zerren. Der Mann war dunkelhaarig. Narben von Schwerthieben zeichneten seinen Körper. Zweifellos Avar s’Ffalenn. Umgeben von dem Glorienschein goldenen Haares lag hinter ihm Talera, die Königin von Amroth. Ihr Gesicht strahlte vor Freude.
Abrupt zog sich Arithon aus dem Geist des Prinzen zurück und deutete grinsend auf das Paar am Boden. »Soll ich dir den Rest der Sammlung auch noch zeigen?«
Lysaers Hand spannte sich um den Griff seines Schwertes. Das Bild seiner Mutter und ihres illegitimen Liebhabers verlosch wie eine Kerze im Wind und ließ einem Schatten gleich das verächtlich blickende Gesicht des schamlosen Bastards zurück. Erfüllt von glühendem Zorn, sah Lysaer in dem Sohn nur mehr die unzüchtigen Züge des Vaters. Die Laterne beschrieb einen Bogen, und das wilde Spiel aus Licht und Schatten begleitete seine Bewegungen, als er ausholte und dem Gefangenen einen Hieb an den Kopf versetzte.
Der Stoß schleuderte Arithon zurück. Er stolperte und stürzte zu Boden. Schlaff wie eine abgeschnittene Marionette lag er auf der Seite, während sich Blut in Rinnsalen über sein Kinn zogen. »Was für eine hervorragende Wirkung für einen Hieb mit der flachen Seite der Klinge«, brachte er zwischen seinen rasselnden Atemzügen hervor. »Warum hast du es nicht mit der Schneide versucht?« fügte er hinzu, doch seine Stimme hatte ihren bisher gewohnten bösartigen Ton verloren.
Lysaer, wieder zur Vernunft gekommen, kämpfte um seine Selbstkontrolle. Er fühlte sich beschmutzt, so sehr erzitterte er unter dem Gefühl der Scham. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie einen hilflosen Mann geschlagen, und diese Tat schmerzte ihn. Schweratmend hob er das Schwert über seinen Feind und sagte: »Du wolltest, daß ich dich töte.« Ermattet stellte er fest, daß seine Hand zitterte, und er schleuderte die Waffe von sich. »Aber bei Ath, diese Genugtuung werde ich dir nicht gönnen. Deines Vaters Rachedurst wird einen anderen Kopf als den meinen treffen.«
Die Klinge schlug gegen die Tür und verursachte ein schepperndes Echo. Als es verstummt war, rührte sich Arithon und schloß die Augen. Ein Schauder durchlief seinen Körper. Für einen kurzen Augenblick verlor er die Kontrolle und offenbarte tiefen Kummer und entsetzliche Verzweiflung, ehe die Maske der Teilnahmslosigkeit wieder von seinen Zügen Besitz ergriff. »Ich war erster Offizier an Bord der Saeriat«, sagte er. »Der Zweimaster stand unter dem Befehl meines Vaters.«
Der Kronprinz von Amroth atmete tief ein, als ihm der Schrecken hinter diesen Worten bewußt wurde. Der Originaleintrag im Logbuch der Briane war richtig gewesen: Der Kapitän der Saeriat war tatsächlich mit seinem Schiff verbrannt. Der Piratenkönig von Karthan war tot. Hier aber, hilflos, gefesselt und um seinen eigenen Tod bittend, saß der letzte Erbe derer zu s’Ffalenn lebend vor ihm.
Arithon war die Veränderung in der Haltung seines Halbbruders nicht entgangen. Er stützte sich auf einen Ellbogen und legte den Kopf in den Nacken. »Leihe mir dein Messer, und ich verspreche dir von Prinz zu Prinz, daß die Blutfehde zwischen den s’Ffalenns und den s’Ilessids hier und jetzt enden wird, ohne noch weiteres Blutvergießen zu erfordern.«
»Ich kann
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