Der Fluch des Nebelgeistes 01 - Meister der Schatten
Verunsichert durch den sonderbaren Verlauf der Ereignisse, wirbelten seine Gedanken durch seinen Kopf. Eine Hellebarde sauste durch die Luft und schleuderte Arithons Kopf beim Aufprall zurück. Schwarzes Haar fiel auf die Spitze eines Gardistenstiefels. Der Bewaffnete lachte und hielt den Schopf mit seinem Absatz fest. Der nächste Schlag traf den Gefangenen mitten in sein ungeschütztes Gesicht, und die Zuschauer johlten vor Freude.
Krank vom Anblick all dieser Gewalt, starrte Lysaer wie gebannt auf den ausgestreckten Arm des Gefangenen. Die langen Finger waren schlaff, entspannt. In seiner Erinnerung stieg das Bild dieser Finger auf, die steif und verkrampft vor Schmerz waren. Die merkwürdige Ruhe, die Lysaer so verwirrt hatte, war nichts anderes als bloße Gleichgültigkeit. Vermutlich hatte die Zeit in Rauven Arithon gelehrt, seinen Geist von seinem Körper zu lösen. Bestimmt fühlt er gar keinen Schmerz.
Daraus aber folgte, daß die Hellebardiere ihn möglicherweise töten würden. Doch wenn der Tod das Ziel war, das Arithon mit solcher List zu erreichen sich mühte, so konnte dieses Mal niemanden, außer dem König selbst, die Schuld treffen, falls ihm das gelang. Die Fehde würde in einem schmutzigen, ehrlosen Akt animalischer Grausamkeit enden. Beschämt darüber, als einziger im Raum den Anstand zu besitzen, Bedauern über diese Dinge zu empfinden, stand der Kronprinz von Amroth abrupt auf, um den Raum zu verlassen, doch noch ehe er die Seitentür erreicht hatte, erklang aus Richtung des Podiums ein ohrenbetäubendes magisches Donnern.
Ein Schatten erschien aus dem Nichts in der Luft. Der Fleck wurde dunkler und nahm schließlich die Gestalt einer Frau in der purpurgrauen Robe der Zauberer von Rauven an. Mit schrecklich verzerrtem Gesicht erkannte Lysaer die zarten Züge seiner Mutter unter der Mönchskapuze. Sollte Arithon sich entschlossen haben, die Taktik aus der Segelkammer vor Publikum zu wiederholen, so sprengte seine Bösartigkeit alle Grenzen. Besorgt um die Unversehrtheit des Königs und genug Herr seiner Sinne, sich zu erinnern, daß die Gabe des Lichtes solche Schatten zu bannen vermochte, unterbrach der Kronprinz seinen Rückzug und schob sich statt dessen durch das Gedränge der vollkommen verblüfften Höflinge. Bisher war der Weg zum Thron noch versperrt.
Rund um ihn herum schüttelten die Ratsmitglieder ihre Lähmung ab. Von den Galerien ertönten gellende Schreie. Der König sprang auf. Das Zepter sauste aus seiner Hand, bohrte sich glatt durch die Brust der Erscheinung und krachte mit einem lauten Geräusch auf den Marmorboden. Die Hellebardiere zogen sich von Arithon zurück; mit angelegten Waffen rannten sie los und umkreisten die geisterhafte Erscheinung der Königin.
»Sie ist nur die Illusion eines Zauberers!« Von der Stelle aus, an der er zu Boden gegangen war, übertönte Arithons Stimme den Lärm laut und deutlich. »Eine Illusion ist für niemanden bedrohlich, und sie kann auch nicht mit Waffengewalt entzaubert werden.«
Ein wohlmeinender Gardist versperrte Lysaer den Weg. Langsam legte sich die allgemeine Panik, und Stille senkte sich über den Raum. Der Bastard rollte sich herum und mühte sich in eine aufrechte Position, während der König das Abbild seiner Gemahlin mit einem Ausdruck beunruhigender, ja gefährlicher Feindseligkeit betrachtete.
Arithon kam endlich auf die Beine. Kein Gardist behinderte ihn, als er gegen den Zug der Ketten auf den Rand des Podiums zuging. Vor dem Gespenst der Königin blieb er stehen und sprach einige Worte in der alten Sprache, die noch immer in Rauven benutzt wurde. Als die Frau nicht antwortete, versuchte Arithon es noch einmal, wobei seine Stimme einen grimmigen Befehlston annahm.
Das Bild blieb unbewegt. Voll gespannter Unsicherheit beobachtete Lysaer, wie Arithon seine Aufmerksamkeit auf den König richtete. Matt sagte der Herr der Schatten: »Dieser Zauber ist an einen anderen gebunden. Ich kann die Botschaft nicht entschlüsseln.«
Die Königin schlug ihre grau abgesetzte Kapuze zurück und sprach. Ihre Worte drangen bis in den letzten Winkel der Galerien. »Seiner Hoheit von Amroth bringe ich Nachricht aus Rauven. Fleisch, Knochen, Blut und Geist, sei gemahnt, meine beiden Söhne wie einen zu behandeln.«
Der König hielt unwillkürlich den Atem an. Seine geröteten Züge erbleichten vor dem goldbestickten Wandbehang hinter seinem Rücken, und die beringten Finger seiner Hände ballten sich zu Fäusten. Er ignorierte den
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