Der Fluch des Nebelgeistes 06 - Das Schiff der Hoffnung
standgehalten hatte.
Morriel behagte diese zwiespältige Atmosphäre, und während ihre altersgelbe Haut im Licht der einzigen Kerze an zerknittertes Leinen erinnerte, genoß sie das Gefühl der Unabhängigkeit, die der Große Wegestein auf ihrem Schoß dem Orden zurückgebracht hatte. Nie wieder würde sie darauf angewiesen sein, Energien aus dem Tagesrhythmus der Erde abzuzapfen. Der Lauf der Tage und der Jahreszeiten hatte keinen Einfluß mehr auf ihre geheimnisvolle Macht.
Mit einem elfenbeinfarbenen Fingernagel strich die alte Matriarchin von Koriathain über die Oberfläche des Steins, wohlwissend um den unterdrückten Fluß der Vibrationen, der selbst dieser zarten Berührung folgte. Die Bürde aufgestauter Energien, jede gefahrvolle, vielschichtige Verzerrung ihrer Struktur durch unzählige Generationen zurückliegender Banne war für alle Zeiten mit den schattenhaften Tiefen des Kristalls verschmolzen. Jeder Versuch, den Mächten des großen Amethysten ungeschützt entgegenzutreten, erforderte eine ungeheure Disziplin. Seine Energien zu lenken, bedurfte es weit mehr als der schlichten Herrschaft über Geist und Willen. Dieser Stein barg eine tödliche Gefahr. Wer aber bei dem Versuch scheiterte, seine strahlende Magie zu führen, dessen Geist würde versklavt werden, sein Selbstbildnis zerschmettert, angefüllt von den schlimmsten Alpträumen, der Verstand nurmehr ein Opfer grausamen Wahnsinns.
Als junges Mädchen, Novizin des Ordens, hatte Morriel sich um jene Korianizauberinnen gekümmert, die ihm zum Opfer gefallen waren. Von diesen unerfreulichen Erinnerungen gewarnt, hatte sie jeglicher überstürzter Hast entsagt. Zeit und Übung waren notwendig, ehe der Korianiorden wieder über die volle Macht des Wegesteines verfügen konnte. Vielleicht würde Lirenda nach einer Dekade gestrenger Unterweisung den Versuch wagen dürfen, die tiefe Macht des Juwels ohne die Führung und den Schutz ihrer Obersten zu lenken; Jahre, die zu vergeuden Morriel sich kaum leisten konnte, sollte sich ihre gewählte Nachfolgerin als ungeeignet erweisen.
Um Gewißheit über den Sinn dieses zusätzlichen Aufwandes an Kraft und Verantwortung zu gewinnen, suchte die Oberste, sich auf ihre eigene Art abzusichern. Mochten die Eigenschaften des Großen Wegesteines auch die lähmenden Schmerzen ein wenig lindem, die ihren überbeanspruchten Leib plagten, so würden sie ihre Lebenszeit doch nicht verlängern können, sei es auch nur um einen einzigen Tag. Nur wenig hatte das Versprechen der wiedererstarkten Macht ihres Ordens das Leid des Atmens gemildert. Allein in dem stickigen, von schweren Mauern umgebenen Raum, eingehüllt in eine gebleichte Seidenrobe, über die ihr offenes Haar in sanften Wellen fiel, spreizte Morriel ihre spindeldürren Finger über den Amethysten. Trotz all ihrer Zweifel wollte sie eine tiefgehende magische Sichtung auf sich nehmen, um die letzten Schritte auf dem Weg zu einem sicheren Übergang der Ersten Zauberin Lirenda in die höchste Macht des Ordens festzulegen.
Anders als der Skyronstein begegnete der große Amethyst dem Geist, der ihn beherrschen wollte, mit tiefer, unheilverkündender Stille. Morriel schloß die trüben Augen, um ihre Gedanken von jeglicher Ablenkung zu befreien, ehe sie ihr Bewußtsein in den Kristall senkte. Von erdrückender Finsternis aufgesogen, gepeinigt durch das vertraute Gefühl der Furcht, die Bösartigkeit des Wegesteines könnte ihrer Kontrolle entgleiten und das Gewebe ihres Verstandes auflösen, hielt sie ihren Geist in eisernem Gleichgewicht. Sie war zu alt und zu weise, um sich von Unsicherheiten verlocken zu lassen, und sie ließ auch nicht in ihrer Wachsamkeit nach, als die ausgedehnte Stille des Steines sich zu einer verführerischen Einladung wandelte.
Das Juwel, das sie zu meistern suchte, war von tausend Obersten Zauberinnen beherrscht worden, und das Gitterwerk seiner inneren Struktur hatte sich über die Jahre zu einem abscheulichen Labyrinth hinterhältiger Tücken gewandelt.
Morriel wartete geduldig. Auch sie war alt und wohlbewandert in der Macht der Ruhe. Sie ließ auf sich zukommen, was die Jugend herauszufordern pflegte, verbarg ihre Macht, bis sich die vielfältigen Strömungen des Steines gegen die Beherrschung eines fremden Geistes neu angeordnet hatten.
Wie stets schlug die Veränderung ohne jede Vorankündigung zu. Keuchend empfing Morriel diesen ersten Ansturm. Gepeinigt von dem aufsteigenden, verdrehten Netzwerk des Widerstandes, das sich um
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