Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
Wolkendecke lag vor Mond und Sternen. Aber der Staub hatte sich wieder gelegt, und der ohrenbetäubende Lärm war einer Stille gewichen, die gespenstischer war als vor dem Beben.
Benommen kroch Conrad zu Assante und Tica. Sein Freund hatte immer noch den Arm um Tica gelegt, und es sah so aus, als würden die beiden heute Nacht in dieser Haltung verharren. Müde und benommen rollte sich Conrad neben ihnen ein.
»Bist du verletzt?«, fragte Assante.
»Ich glaube nicht. Was ist mit dir und Tica?«
Beide verneinten.
»Es hat keinen Sinn, im Dunkeln irgendetwas zu tun. Am besten, wir warten, bis es zu dämmern beginnt.«
»Es kann sein, dass noch weitere Erdstöße folgen«, meinte Tica. »In der Regel sind sie aber deutlich schwächer als das eigentliche Beben.«
Conrad sah aus den Augenwinkeln, dass sie noch näher an Assante heranrückte und erschöpft die Augen schloss. Er war davon überzeugt, dass sein Freund, im Gegensatz zu ihr, kein Auge zutun würde. Er selbst konnte auch nicht ans Schlafen denken. Nie zuvor hatte er ein Erdbeben miterlebt, und er hoffte inständig, dass es das erste und letzte in seinem Leben bleiben würde. Er fragte sich, welchen Schaden die Naturgewalten in einer Stadt angerichtet hätten, und sah einstürzende Häuser, schreiende Menschen und sterbende Kinder. Tica hatte recht gehabt. Sie waren hier in Sicherheit gewesen. Sie waren alle drei noch am Leben, und sosehr er sich mit seinem Freund freute, der Tica nun so nah war, so sehr beneidete er ihn um diese Nähe und schämte sich gleichzeitig ob seiner Gedanken. Neid war ein unwürdiges Gefühl. Dennoch wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass Jana ebenso nah bei ihm läge wie Tica bei Assante.
Stundenlang verbrachte Conrad wach neben Assante und Tica. Er starrte in den Himmel und wartete darauf, dass erste graue Lichtfetzen den neuen Tag ankündigten. Aber die Dunkelheit schien ewig zu währen. Als seine Glieder so schmerzten, dass er meinte, keinen Augenblick länger auf dem harten Boden liegen zu können, riss die Dunkelheit auf und erstes, zartes Hellgrau mischte sich ins tiefe Schwarz. Die Sonne tauchte langsam am Horizont auf und zeigte das ganze Ausmaß der Zerstörung. Der Spalt im Erdboden war nicht der einzige geblieben. Abseits des Flusses befanden sich weitere Risse und Löcher. Leblose Fischkörper lagen im Gras, tote Vögel hingen in Büschen. Riesige Bäume waren entwurzelt worden und streckten ihre Äste anklagend zum Himmel. Doch der Anblick der Zerstörung war gleichzeitig auch ein Anblick des Lebens. Denn während entwurzelte Bäume ihre Blätter fallen ließen, richteten die ersten Wasservögel ihre Nester in den Ästen ein. Andere holten sich abgebrochene Zweige für neue Behausungen. Die toten Fische und Vögel wurden von Aasfressern aufgesammelt, und schon bald erfüllten die altvertrauten Geräusche von Insekten und anderen Tieren wieder die Luft.
Für Conrad, Assante und Tica war der schlimmste Verlust das kaputte Boot. Der Sturm hatte es zertrümmert, und ohne passendes Werkzeug war eine Reparatur nahezu unmöglich. Aber trotz der schwierigen Situation waren Assante und Tica bester Laune. Sie warfen sich verliebte Blicke zu und hielten sich an der Hand, wenn sie sich von Conrad unbeobachtet fühlten. Das schreckliche Erdbeben hatte sie näher zusammenrücken lassen.
»Was sollen wir jetzt machen?«, fragte Conrad mit sorgenvollem Blick auf die Überreste des Bootes.
»Wir ziehen zu Fuß weiter«, erklärte Tica leichthin. »In ein oder zwei Tagen sollten wir auf Siedlungen treffen. Viel weiter hätten wir mit dem Boot ohnehin nicht fahren können, denn sobald wir die Berge erreicht haben, brauchen wir Lamas für die Weiterreise.«
Assantes Augen hingen förmlich an Ticas Mund, während sie sprach. Sosehr sich Conrad für den Freund freute, fragte er sich, wie lange er das innige Turteln ertragen würde.
»Gibt es diese Erdbeben häufig?«, fragte er Tica.
Sie nickte.
»Ja, leider kommt es immer wieder dazu. Meine Großmutter hat mir von einem Erdbeben erzählt, das sie erlebt hat, als ich noch nicht auf der Welt war, und das so schrecklich gewesen sein soll, dass unser Dorf und die Stadt Zipaquirà dem Erdboden gleichgemacht wurden. Das Beben zerstörte Wälder, verrückte Felsen, änderte Flussläufe und trocknete Seen aus. Hinterher hat man Zipaquirà und unser Dorf wieder errichtet. Man hat die Wände der Häuser doppelt so dick gebaut und die Fundamente verstärkt, aber niemand weiß, wie
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