Der Fluch des Sündenbuchs: Historischer Roman (German Edition)
sich ging. Hatte der Tod des Dieners ihn berührt? War er traurig oder betroffen? Jana konnte es nicht sagen. Falls der wortkarge Engländer über Gefühle verfügte, so versteckte er sie gekonnt. Statt sich mitzuteilen, klammerte er sich an seiner Flasche mit Zuckerrohrbrand fest, die ihn am Leben zu halten schien.
Am fünften Morgen ihrer Flucht tauchte vor ihnen eine Stadt auf, die auf Terrassen in die steilen Hänge der Anden gebaut war. Kleine Häuser mit roten Dächern schmiegten sich harmonisch in den Berg. Rauch, der aus einzelnen Schornsteinen emporstieg, verband sich mit den tiefstehenden weißen Wolken. Der hochgelegene Teil der Stadt verschwand vollständig darin.
»Das muss San Cristóbal sein«, sagte Jana und hielt ihr Maultier an.
Auch Richards Maultier blieb stehen. Er zögerte, bevor er sprach.
»Sollen wir in der Stadt nach Unterkunft suchen oder lieber außerhalb unser Lager aufschlagen?«
»Unsere Verfolger werden in allen Kirchen und Klöstern nach uns fragen. Es ist wohl besser, wenn wir außerhalb der Stadtmauern schlafen«, sagte Jana enttäuscht. Sie sehnte sich nach einem Bad und einem halbwegs sauberen Bett.
»Lasst uns eine Taverne suchen, in der wir etwas Ordentliches zu essen bekommen. Danach können wir auf dem Markt frischen Proviant kaufen«, schlug Richard vor. Jana ahnte, dass Richard vor allem an seinen flüssigen Vorrat dachte.
»Wollt Ihr als Mann in die Stadt reiten?«, fragte Richard.
Jana überlegte kurz. Sie hatte schon vor Tagen ihre Verkleidung aufgeben wollen. Auch wenn es angenehm war, in Hosen zu reiten, nach den Erfahrungen in Barinas zog sie ihre wahre Identität vor.
»Wartet einen Moment«, sagte sie, kletterte von ihrem Maultier und holte aus ihrer Satteltasche ihr Kleid hervor.
»Dreht Euch bitte um, damit ich mich wieder in Jana Jeschek verwandeln kann«, bat sie.
Richard wendete das Maultier. Während Jana rasch in ihr Kleid schlüpfte, hätte sie schwören können, dass Richard sich umdrehte und sie belustigt musterte. Hätten die Ereignisse der letzten Tage und Wochen sie nicht so zermürbt, hätte sie ihn dafür gerügt. Aber im Moment war ihr sein Verhalten so gleichgültig, dass sie sich nicht einmal darüber ärgerte.
Später saßen sie in einem winzigen Gastgarten einer kleinen Straßenküche. Der Wirt, ein hagerer Mann mit dichtem schwarzem Haar, drehte einen Spieß über einem Feuer, auf dem mehrere Hühner brutzelten. Es roch verführerisch nach kräftigen Gewürzen. Richard hatte Zuckerrohrbrand bestellt, aber der Wirt hatte ihnen ein bierähnliches Getränk gebracht, das er selbst Aqha, die Spanier am Nebentisch aber Chicha nannten. Es war gut, dass Jana erst hinterher erfuhr, wie es hergestellt wurde. Erst als sie ihre Hühner verspeist und einen weiteren Krug Chicha getrunken hatte, rief einer der Spanier vom Nebentisch ihr zu: »Das Spuckebier schmeckt köstlich, nicht wahr?«
Nun verriet der Wirt das Geheimnis der Herstellung.
»Die Frauen der Inkas kauen gekeimten Mais und spucken ihn in einen Topf. Dort wird der Inhalt vergoren, bis Chicha entsteht, das mit frischem Wasser aufgefüllt wird.«
Augenblicklich stießen Jana die gewürzten Hühner und das saftige Maisbrot sauer auf. Auch Richard wurde blass um die Nase und bestellte keinen weiteren Krug von diesem Aqha.
»Sollen wir eine Runde durch die Stadt spazieren?«, schlug er vor.
Jana war einverstanden. Ihr Weg führte sie zu einer prächtigen Kathedrale, die jeden spanischen Bürgermeister vor Neid hätte erblassen lassen.
»Ich werde in der Kirche Kerzen für Conrad und Tom anzünden«, entschied Jana und wartete darauf, dass Richard einen bösen Kommentar dazu abgab. Aber nichts dergleichen passierte. Im Gegenteil, er begleitete sie und meinte: »Eine Kerze hätte Tom sicher gefreut.«
Schweigend betraten sie den hohen Bau aus schwerem Stein. Im Innern war es angenehm kühl und überraschend hell. Durch schmale, bunte Glasfenster drang Sonnenlicht und warf farbige Rosetten auf den glatten Steinboden. Es roch wie in allen Kirchen, die Jana je betreten hatte, nach Weihrauch und Staub. Der Geruch löste Erinnerungen an ihre Kindheit in ihr aus. Damals, an der Hand ihrer Mutter, hatte sie sich sicher gefühlt und gedacht, dass das Leben nur Gutes für sie bereithalten würde. Mittlerweile war sie kein naives Mädchen mehr und hatte erfahren müssen, dass das Leben auch aus Schattenseiten bestand. So traurig sie über den frühen Tod ihrer Mutter und das plötzliche Sterben
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