Der Fluch vom Valle della Luna
erinnern.
»Nelly? Nelly, um Gottes willen, geht’s dir gut? Du bist so blass, schmier mir hier bloß nicht ab, hörst du!«
Tano flüsterte ihr ins Ohr und versuchte sie zu stützen, als er merkte, dass sie schlaff in seinem Arm hing und jeden Augenblick schwerer wurde. Doch Nelly hörte ihn nicht. Ihre starren Augen waren weit aufgerissen und sie zitterte unaufhörlich. Ihr war, als würde sie im Nebel versinken, als der Trauerzug plötzlich wie ein Mann vor der weit geöffneten Pforte einer schwarzen Marmorkapelle zum Stehen kam. Zwei Engel mit drohend in die Höhe gereckten Schwertern bewachten den Eingang. Es ist wie im Sommer, als Simba sein Unwesen trieb und Claire und ich ... Das ist unmöglich, das ist mir seitdem nie mehr passiert ... Sie presste die Lider zusammen, das Geräusch der Friedhofsdiener, die damit beschäftigt waren, den Sarg in der Kapelle einzumauern, vermischte sich mit ihrem Herzschlag. Für einen entsetzlichen Moment schien es ihr, als läge sie anstelle des Toten im Sarg.
»Jetzt reicht’s, wir gehen. Ich sehe doch, dass du dich elend fühlst.«
Fügsam stolperte sie neben Tano her, der sie um die Taille fasste. Sie fühlte sich kraft- und willenlos, die Statuen schienen sich über sie lustig zu machen. Die Schneeflocken fielen jetzt groß und dicht, und die Landschaft verschwand in einem weißen Strudel, während die Zeit ins Grenzenlose zerfloss. Als sie schließlich – sie wusste nicht, nach wie vielen Stunden – die Augen öffnete, war sie bei Tano zu Hause.
Tano, der ihr Hände und Füße massierte. Tano, der sie auszog und in eine Wolldecke hüllte. Tano, der ihr etwas Warmes, Starkes einflößte, das brennend in den Magen rann. Der sie auf den Mund küsste, zunächst ganz sacht, dann immer fordernder, die Hände überall. Nelly schloss die Augen, erwiderte seine Küsse und ließ sich gehen.
IV
Sie lag allein in dem großen Bett mit dem gepolsterten, schwarzledernen Kopfende. Paradiesisch. Von der Hölle ins Paradies. Zum zweiten Mal binnen weniger Tage öffnete sie die Augen und fühlte sich vollkommen glücklich. Dann kam ihr die Beisetzung in den Sinn, ihre plötzliche Verstörtheit, und sie fragte sich, welche ihrer Erinnerungen, die ihr noch immer wie ein Traum vorkamen, der Wirklichkeit entsprachen. Sie hatte mit Tano geschlafen, da gab’s nichts zu rütteln. Seufzend schwang sie die Beine aus dem Bett und trat ans Fenster. Tano wohnte in einer stilvoll eingerichteten Zweizimmerwohnung im Zentrum, das große Fenster ging auf den Parco dell’Acquasola hinaus, und vor ihr lag still die in makelloses Weiß gehüllte Stadt. Genua im Schnee war ein höchst ungewöhnlicher Anblick. Da es nur selten schneite, war man nicht entsprechend gerüstet, und jedes Mal geschah das Gleiche: Nach dem ersten Schnee war die Stadt wie mit einem Bann belegt. Der Verkehr brach zusammen, vor allem die Autobusse kamen auf den steilen Straßen nicht voran, gerieten auf dem vereisten Pflaster ins Rutschen und stellten sich quer. Die Schulkinder jubelten, Ferien! Tags darauf hatten sich dann die meisten darauf eingestellt, die Busse legten Schneeketten an, und das Leben lief wieder fast normal. Wenige Tage später war der Schnee weggeschmolzen, und nur ein paar schmutzige, vereiste Haufen an den Straßenrändern erinnerten an ihn. Doch jetzt war er unberührt, mindestens dreißig Zentimeter hoch und hüllte jeden Makel in blendendes Weiß.
Nelly hatte die Nase gegen die Scheibe gedrückt, die von ihrem Atem beschlug, und hörte den Schlüssel im Schloss nicht. Mit zwei verlockenden Take-away-Päckchen von Bruciamonti in der Hand betrat Tano lächelnd die Wohnung. »Tintenfisch mit Kartoffeln und Oliven, geräucherter Lachs, Caponata. Na, wie klingt das?«, verkündete er. Sofort fühlte Nelly sich unwohl, am falschen Ort mit dem falschen Mann. Die Nacht mit Carlo war noch zu lebendig. Tano bemerkte sofort, wie sich ihre Miene veränderte, stellte die Tüten auf der Kommode ab und sah sie ernst und fragend an.
»Wie geht’s? Fühlst du dich besser?«
»Ja, alles bestens. Danke für deine Hilfe auf dem Friedhof. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los war. Entschuldige, aber jetzt muss ich los. Tut mir leid wegen des Abendessens.«
»Ein ziemlich plötzlicher Abschied, muss ich sagen.«
»Es tut mir leid, ich ... Wäre die Situation eine andere ... Aber es ist nun mal so, wie es ist.«
»Das liegt nicht an mir, Nelly. Wenn’s nach mir ginge ...«
Aber sie schnitt ihm das Wort ab
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