Der Fluch vom Valle della Luna
Vorschlag war, doch sie konnte sich nicht verstellen. »Wo? Wann?«, platzte sie heraus. Sie verabredeten sich um fünf.
Die gefütterten Stiefel knöcheltief im dreckigen Matsch, den man bis vor wenigen Stunden als Schnee bezeichnen konnte, und in ihren schwarzen Parka gehüllt, blickt Nelly verdutzt auf den wuchtigen Palazzo, der nach wenigen hundert Metern in der steilen, mit Ziegelsteinen gepflasterten Gasse jenseits der Via Balbi vor ihr auftaucht. Neugierig geht sie so weit wie möglich um das Gebäude herum, das selbst für das vor originellen Bauwerken strotzende Genua einzigartig ist. Das Eingangstor in der trutzigen Wand sieht aus wie ein Burgtor, und tatsächlich wird die Mauer hinter der nächsten Ecke noch höher und wirkt, als gehörte sie zu einem Turm oder einer Festung. Reste einer Stadtmauer? Einer Befestigungsanlage? Kopfschüttelnd versucht sich Nelly einen Reim darauf zu machen. Da denkt man, man kennt fast jeden Winkel dieser Stadt, und trotzdem gibt es immer wieder neue Überraschungen. Man biegt in ein steiles Gässchen ein, passiert einen Bogengang und entdeckt eine neue Welt. Nelly kehrt zu dem riesigen, mit spitzen Metallbeschlägen bewehrten Tor zurück und sucht auf dem Klingelschild nach dem Namen Pisu. Da ist er. Sie schellt, das Schloss schnappt mit einem trockenen Klacken auf, doch die schweren Flügel öffnen sich nur einen Spaltbreit. Nelly muss sich mit ganzer Kraft dagegenstemmen, um hindurchschlüpfen zu können. Wer, bitte, wohnt denn hier? Riesen? Zyklopen? Die Überraschungen hören nicht auf. Das Atrium ziert rechts ein Nymphäum, links führt eine von Säulen flankierte Marmortreppe zu einer von außen unsichtbaren, hinter den meterhohen Mauern verborgenen Terrasse. Rechts ein weiteres Tor, der eigentliche Eingang zu diesem architektonischen Monstrum, hinter dessen mittelalterlicher Fassade ein Bau aus dem neunzehnten Jahrhundert zum Vorschein kommt, mit Treppen und Aufzügen. Endlos lange Gänge auf jeder Etage, nur zwei Wohnungen pro Geschoss. Wo bin ich da bloß hingeraten? Wenn Poe oder Polanski das hier sehen könnten, wer weiß, was denen dazu einfallen würde! Der Aufzug ist ziemlich neu, allerdings nicht so neu, dass sie nicht zusammenzuckt, als er mit einem jähen Ruck zum Stehen kommt. Im sechsten Stock des bizarren Gebäudes leben Lorenza und Maria Grazia Pisu. Sie bewohnen die gesamte Etage. Nelly steht vor einer gepanzerten Tür. Das Treppenhaus ist noch unsaniert, die Wände sind mit langen verschiedenfarbigen Strichen überzogen, die davon zeugen, dass die Elektroinstallation auf europäischen Standard gebracht wurde. Sandra öffnet ihr die Tür in einem weit ausgeschnittenen Etuikleid aus schwarzem Samt mit einer dreifachen Goldkette auf der braunen Haut.
»Da bist du ja, Nelly. Danke, dass du gekommen bist, du Liebe.«
Die Decken sind unglaublich hoch, wie so oft in den alten großbürgerlichen Genueser Wohnungen. Der einst mehrfarbige Stuck bröckelt und hätte eine fachmännische Restaurierung nötig. Der Fußboden ist aus Genueser Terrazzo, mit dunklen Rahmen um den senfgelben Grund, doch hier und da sind nachlässig zugeschmierte Risse erkennbar, Verschleißspuren, wie Löcher in einem makellosen Gobelin. An den Wänden verschossene Tapeten, die Beleuchtung ist spärlich und schummrig, Grabeslicht , der vergoldete Wandspiegel, die Empire-Kommode, die dunklen, schwarz gerahmten Bilder könnten bei einem ausgesuchten Antiquitätenhändler stehen.
Sandra zieht sie einen endlos scheinenden Flur entlang, der sich dunkel und bedrohlich in den Eingeweiden des Hauses verliert. Durch eine große Glastür linker Hand betreten sie einen geräumigen Salon, der dem Palazzo Ducale alle Ehre machen würde. Da sind sie, Sandras Verwandte. In einem Sekundenbruchteil registriert Nelly die Szene: grauer Marmorkamin an einer Wand, Louis-Philippe-Möbel, riesiges Sofa, vier Sessel, alles mit abgenutztem Originalgobelin bezogen. Vor dem Sofa ein grünes Marmortischchen. Auf dem Boden alte Teppiche, teils fadenscheinig und restaurierungsbedürftig, aber sehr wertvoll. Eine Wand wird von einem wunderschönen Kelim eingenommen. Antike Porzellanvasen und düstere Bilder in ebenso dunklen Rahmen vervollständigen die Einrichtung. In der Luft ein leichter Geruch nach Moder, nach geschlossenen Räumen, nach ... Niedergang? Die anwesenden Personen, eben noch ins Gespräch vertieft, wenden sich zur Tür und starren Sandra und Nelly schweigend an. Auf dem Sofa sitzt Cousine
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