Der Fluch vom Valle della Luna
beliebt. Willst du noch mehr hören? Wenn ja, lade ich dich gerne zum Essen ein und erzähle dir alles, was ich weiß. Und du verrätst mir, weshalb dich das interessiert.«
»Wir zwei, zum Essen? Und was sagt Maria Antonia dazu?«
Ein undefinierbares Lächeln huschte über sein langes, beherrschtes Gesicht.
»Sie erzählt mir auch nicht, mit wem sie ausgeht und was sie macht. Du weißt doch, wie es zwischen uns steht, leider. Und in den letzten Jahren ist es bestimmt nicht besser geworden. Was hältst du von Montag um halb neun im Terrazze del Ducale ? Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht mehr in Ruhe gesehen.«
»Das stimmt allerdings. Also, abgemacht. Ich freue mich darauf, endlich mal wieder ein bisschen mit dir zu plaudern, Luca!«
Er drückte leicht ihre Hand. Die Schlange war inzwischen kleiner geworden, und sie standen fast vor der Witwe. Die Augen der Frau waren leer. Die ist mit Beruhigungsmitteln oder ähnlichem Zeug vollgestopft. Nelly sah die tiefen, verbitterten Furchen um ihren Mund. Das schwere Make-up konnte ihre violettblauen Augenringe nicht kaschieren.
»Danke, dass du gekommen bist, Luca.« Während der Richter ihre Finger mit beiden Händen ergriff und einige aufrichtige Sätze des Bedauerns sagte, beobachtete Nelly Anselmos Tochter, die nicht aufhören konnte zu weinen. Sie stellte sich vor, flüsterte ein paar Platituden, drückte verschiedene Hände und trat zur Seite, um anderen Platz zu machen.
Vor der Kirchentür hasteten einige davon, die meisten folgten jedoch dem Trauerzug bis zum Friedhof von Staglieno. Nelly und Tano gingen zu seinem Auto, das wild in einer der Krankenhauszufahrten parkte, und reihten sich mit einiger Mühe in die Autoschlange hinter dem Bestattungswagen ein, der sich auf dem Corso Europa langsam in den Verkehr Richtung Val Bisagno einfädelte.
Tano fuhr schweigend und hing seinen Gedanken nach, die er offenbar nicht mit seiner Begleiterin teilen wollte. Nelly war darüber froh und sauer zugleich. Hin und wieder blinzelte sie verstohlen zu seinem schönen, ernsten, fast finsteren Profil hinüber, das ihr inzwischen so vertraut war. Wieso muss das Leben so kompliziert sein? Und wieso mache ich es mir immer noch komplizierter? Ist ein Mann nicht genug? Ich liebe Carlo – und bin in Tano verliebt. Auf keinen der beiden kann ich verzichten. Ich bin verrückt ... Der Polizeivize schien ihre Gedanken zu lesen, denn er wandte kurz den Kopf und blickte sie an.
»Das Leben, was, Nelly? So kurz und voller Widrigkeiten. Einmal nicht aufgepasst, man stolpert auf der Treppe, und alles ist aus.«
Nelly erschauderte und drückte sich in den weichen Mantel, bis ihr Gesicht in der weiten Kapuze fast verschwand.
»So ist es.« Er griff nach ihrer Hand. Nelly leistete keinen Widerstand, lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Die Autokolonne kam vor dem Haupteingang von Staglieno zum Stehen. Genua ist berühmt für seinen Monumentalfriedhof mit den von namhaften Künstlern gestalteten Grabmälern. Zu jeder Jahreszeit laufen Scharen von Touristen mit Reiseführern dort herum, doch an diesem eisigen Wintermorgen war von ihnen nichts zu sehen. Nelly stieg aus dem Auto, ließ den Blick über die riesige Totenstadt schweifen und empfand wie immer Abscheu. Sie war nur wenige Male hier gewesen, und das bestimmt nicht freiwillig. Sie hasste Friedhöfe im Allgemeinen und Staglieno im Besonderen.
Zu Fuß folgte die trübe Karawane dem dunklen Bestattungswagen, der im Schritttempo vorneweg fuhr und schließlich hielt. Der Bruder, der Sohn und andere Männer, die Nelly nicht kannte, schulterten den Sarg und trugen ihn das letzte Stück den von Mausoleen übersäten Hügel hinauf. Von den Bergen wehte ein eisiger Wind, und die halb gefrorenen Regentropfen traktierten die Gesichter der Trauergäste wie Nadelstiche. Es sah aus, als hinge die Luft voller Glassplitter. Nelly fing so heftig an zu zittern, dass Tano ihr ungeachtet der zahlreichen Zeugen den Arm um die Schultern legte und sie an sich zog. Sie ließ ihn gewähren. Ihre Lippen waren blau, der Blick starr. Ihr war, als hätte sie plötzlich ihren Körper verlassen und beobachtete alles von außen, den Sarg auf den Männerschultern, die Menschen in Schwarz, Tano, sich selbst. Beim Gang auf den Hügel war der Nebel dichter geworden, und die weinenden Engel, die einige Gräber schmückten, schienen unvermittelt aus dem Jenseits aufzutauchen, um die Sterblichen an ihr gemeinsames, unausweichliches Schicksal zu
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