Der Fluch vom Valle della Luna
Marilena, die plastische Chirurgin, in einem grauen Seidenkostüm, das dunkle, mahagonirot schimmernde Haar perfekt frisiert. Sie ist runder als Sandra, hat ebenfalls braune Augen und ein breites Gesicht, das mit dem Alter dick zu werden droht. Neben ihr sitzt ein Mann mit grauem, schütterem Haar, den Nelly bisher noch nicht gesehen hat. Er muss sehr groß sein, denn er hält die langen Beine unbequem angewinkelt. Daneben steht, an eine grüne Marmorsäule gelehnt und in einer Haltung, die an die sepiafarbenen Aufnahmen der letzten Jahrhundertwende erinnert, der Künstler der Familie, der berühmte Regisseur Alceo Pisu. Er ist mittelgroß und dunkel, doch seine wilde Mähne ist inzwischen recht graumeliert. Mit einem dannunzianisch gelangweilten Gesichtsausdruck hebt er verächtlich eine Braue, und das ist der einzige Funke Leben in dieser vollkommen reglos scheinenden Szenerie. Neben ihm steht eine attraktive Frau Mitte, Ende dreißig – heutzutage ist es wirklich schwer, das Alter einer Frau zu erraten, vielleicht hat sie die vierzig auch schon überschritten –, blondiert, in unpassendem Knallgrün, die blauen Augen stark geschminkt, die Lippen rot. Auf einem Sessel sitzt Alice Pisu, die Witwe, mit dem gleichen weggetretenen Gesichtsausdruck wie bei der Beerdigung. Neben ihr steht der Sohn Giancarlo. In einem weiteren Sessel sitzt die Tochter Serena, das blasse Gesicht ist nicht mehr tränenüberströmt, die traurigen Augen sind ins Leere gerichtet. Als wäre die Klappe eines Regisseurs gefallen, kommt plötzlich Leben in das gerade noch unbewegte Bild. Es ist Sandra, die den Zauber bricht.
»Meine Lieben, das ist meine Freundin Nelly Rosso, Kommissarin bei der Genueser Polizei. Komm, Nelly, ich stelle dir meine Cousins vor.«
Doch weiter kommt sie mit der Bekanntmachung nicht. Der Mann neben der Marmorsäule, den Nelly als den Regisseur erkannt hat, macht eine ungehaltene Handbewegung, wie um eine Fliege zu verjagen, und verzieht angewidert den Mund.
»Ich verstehe einfach nicht, was für einen Scheiß du dir da in den Kopf gesetzt hast, Sa. Was hat deine Freundin mit Anselmos Tod zu tun? Die Polizei schnüffelt sowieso schon überall herum, sogar obduziert haben sie ihn. Ohne Ergebnis. Ein Unfall, es war ein beschissener Unfall. Können wir also bitte aufhören, die Sache auf Teufel komm raus schlimmer zu machen, als sie ohnehin schon ist?«
Zum bewegten Bild hat sich der Ton gesellt. Nicht gerade eine Verbesserung. Alceo Pisu hat einen harten Bariton, der das ganze Zimmer erfüllt, man hört, dass er gewohnt ist herumzukommandieren. Sandra lässt sich jedoch nicht einschüchtern.
»Du führst dich mal wieder auf wie die Axt im Wald, Alceo. Ich habe mit allen gesprochen, mit Marilena, mit Alice, alle waren einverstanden, nur du musst mich vor meiner Freundin blöd dastehen lassen, die ihren freien Tag opfert, um euch ein paar Fragen zu stellen.«
Sie sieht Nelly an. »Entschuldige, meine Liebe, er kann nichts dafür, dass er so ein Trampeltier ist.«
Alceo bricht in Lachen aus, kommt auf Nelly zu und streckt ihr in einer einstudierten, theatralischen Geste die Hände entgegen.
»Meine liebe ... Nelly?« – »Dottoressa Nelly Rosso.« – »Meine liebe Dottoressa Rosso, entschuldigen Sie meine Ehrlichkeit, die stets hart an der Grenze zur Unverschämtheit ist. Ich bin Alceo Pisu, Anselmos Bruder. Ich habe gewiss nichts gegen Sie, im Gegenteil, es ist sehr freundlich von Ihnen, sich den schönen Sonntag mit vollkommen Unbekannten zu versauen, die dazu noch in Trauer sind, ein Riesenspaß!, aber die Frauen der Familie sehen überall Gespenster und Verschwörungen. Ich hingegen nehme das Schicksal, wie es ist. Anselmo ist von uns gegangen, weil seine Zeit gekommen war, das ist alles. Friede seiner Seele, das Leben geht weiter, lasst es uns genießen, so lange wir können.«
Anselmos Tochter Serena bricht wiehernd in Tränen aus, die Mutter presst die Lippen zusammen. Nelly macht einen Schritt in das Zimmer, während Marilena Pizzi sich vom Sofa erhebt und mit ausgestreckter Hand auf sie zukommt. Fast die identische Geste wie bei Alceo. Sind in dieser Familie alle Schauspieler?
»Eigentlich war es meine Idee, Sie einzuladen, Dottoressa. Ich bin Marilena Pizzi. Ich möchte mich für meinen Bruder entschuldigen, er muss immer im Mittelpunkt stehen, ohne geht es nicht, die anderen sind ihm egal. Verzeihen Sie ihm, auch wenn er es nicht verdient. Herzlich willkommen und danke, dass Sie sich die Zeit
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