Der Fluch vom Valle della Luna
mitzukriegen, doch sie nickt. Sie fragt sich, ob Maria Grazia diese Bürde alleine tragen muss oder ob ihr jemand hilft. Während die beiden Frauen auf den Flur zurückkehren, mustern Maria Grazias große, glänzende Augen sie. Sie lesen ihre Gedanken.
»Zum Glück hilft mir jemand. Celeste springt ein und steht der Mama bei, wenn ich nicht mehr kann und mal raus muss. Sie ist eine sehr gute Fachkrankenschwester. Wenn ich alleine wäre, könnte ich das Haus nie verlassen, und darunter würden meine Nerven und mein Gemüt sicher leiden. Mit einem Nervenzusammenbruch wäre ich meiner Mutter zu nichts mehr nütze. Und mir selbst auch nicht«, schließt sie unsicher, den Blick wieder gesenkt.
»Und was halten Sie von den Drohbriefen, Maria Grazia? Hier sind die doch auch angekommen, nicht wahr?«
Maria Grazia zieht die Schultern hoch und presst die Lippen zusammen.
»Ich habe dazu keine Meinung. Natürlich ist das sehr merkwürdig. Seit Papa gestorben ist, hängt der Familiensegen schief. Er hat die Kinder zusammengehalten. Er war ein ganz besonderer Mensch, wissen Sie? Sehr stark.«
Marilena ist im Flur aufgetaucht und hat den letzten Satz mitbekommen. Mit einem spöttischen kleinen Lachen gesellt sie sich zu Nelly und den anderen beiden.
»Unsere kleine Magraja lobt Papa mal wieder in den Himmel. Ihr geliebter Papi ... Liebe Dottoressa Rosso, darf ich Sie Nelly nennen?« – »Bitte.« Nellys Blick fällt auf die speckige Hand mit den kurzen, schwarz lackierten Nägeln, die sich ihr auf den Arm legt und sie zu einer Seitentür zieht, während Maria Grazia wie erstarrt dasteht und sofort kapiert hat, dass die Schwester sie bei der Unterredung mit dem Gast nicht dabeihaben will.
»Magraja? Was bedeutet das?« Nelly sucht den Blick der kleinen Schwester, doch die steht mit hängendem Kopf da und überlässt die Antwort Marilena.
»Das ist die verkürzte Form von Maria Grazia, so hat sie sich als kleines Kind selbst genannt, und seitdem heißt sie in der Familie so. Niedlich, finden Sie nicht?«
Unterdessen hat sie Nelly in ein Zimmer gezogen und macht das Licht an. Ein Zimmer, das sie noch nicht gesehen hat, ein Kinderzimmer, allenfalls ein Jugendzimmer. Himmelblaue Wände mit Silbersternchen. Ein Bett, ein Schreibtisch und ein Schrank, alles weiß lackiert. Auf einem Bord ein paar alte Puppen, ein herzförmiges Kissen auf der weißblau geblümten Bettdecke. Marilena runzelt die Stirn.
»Ich hab mich in der Tür geirrt, ich dachte, das wäre mein altes Zimmer, dabei ist es Magrajas. Na, macht nichts. Ich wollte nur kurz unter vier Augen mit Ihnen reden.«
Sie setzt sich aufs Bett und zieht Nelly neben sich.
»Sie müssen nicht glauben, dass wir alle völlig durchgedreht sind, Nelly. Wir sind eine ganz normale Familie, oder vielmehr, wenn man unsere Lebensläufe ansieht, meinen, Anselmos, Alceos, durchaus über dem Durchschnitt. Anselmos plötzlicher, sinnloser Tod hat uns tief erschüttert, Alceo mehr als alle anderen. Und was Giancarlo angeht, so war der schon immer neidisch auf seinen Vater. Er hat nichts auf die Reihe gekriegt, wissen Sie? Er hat die Uni nicht fertiggemacht, dabei ist er gar nicht blöd. Nur dass er mit zwanzig plötzlich diese Krisen bekommen hat ... Nun ja, er leidet an Schizophrenie. Mit Medikamenten kriegt man die Krankheit zwar einigermaßen in den Griff, aber mehr erreicht man im Leben nicht, nicht wahr?«
Mit zur Seite geneigtem Kopf beobachtet sie die Wirkung ihrer Worte.
»Wie traurig für ihn. Und seine Freundin? Wieso hat sie ihn verlassen?«
»Na, deswegen, nicht wahr? Wenn Sie wüssten, wie der wird, wenn er nicht dauernd unter Kontrolle ist. Den müsste man einliefern. Die arme Gioia hat das einfach nicht mehr ausgehalten, von wegen Affäre mit meinem Bruder Anselmo. Er ist nicht nur schizophren, sondern auch paranoid, überall sieht er Feinde, Fallen, Hinterhalte. Dass seine Mutter Psychopharmaka nimmt, liegt ganz bestimmt nicht an meinem Bruder.«
Nelly wartet, bis Marilena Luft holt, um in ihren Wortschwall eine Frage einzuschieben.
»Könnte Giancarlo dem Vater etwas angetan haben? Vielleicht die anonymen Briefe geschrieben haben?«
Marilena Pizzi verzieht das Gesicht, trommelt mit den Fingern auf die Bettdecke, spielt mit den Rüschen des Kissens.
»Keine Ahnung, aber ich glaube nicht. Bisher ist er nie gewalttätig gewesen. Und was die Briefe betrifft, weiß ich nicht, was ich denken soll, Nelly. Vielleicht ist es einfältig, sich aufzuregen und einschüchtern zu
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