Der Fluch vom Valle della Luna
genommen haben.«
Mit der Schnelligkeit einer Schlange fährt sie zu ihrem spöttisch dreinblickenden Bruder herum.
»Wenn dich das Ganze nicht interessiert, mein lieber Alceo, wieso schnappst du dir nicht deine Schnalle und ziehst Leine? Von uns wird dich bestimmt keiner vermissen.«
Marilenas Tonfall ist sanft und freundlich. Alceo zuckt nur mit den Achseln, verzieht das Gesicht und grinst seine Begleitung an, die die Szene völlig kaltzulassen scheint. Offenbar kennt sie das alles schon.
»Tja, also ... bei all diesen Weibern, die mir in den Rücken fallen, habe ich wohl keine Chance, ich ergebe mich. Gnade, Erinnyen, entmannt mich nicht!« Er dreht sich um und ruft in Richtung einer zweiten Tür: »Magraja, wo zum Teufel steckst du? Komm her, wir wollen was trinken.«
Von der herrischen Stimme gerufen – in so einem Ton ist man früher vielleicht mit seinen Dienstboten umgesprungen, denkt Nelly –, erscheint eine hochgewachsene, schlanke Frau in der Tür, jedoch mit hängenden Schultern und leicht zur Seite geneigtem Kopf, was sie kleiner aussehen lässt. Als wollte sie sich unsichtbar machen. Sie ist irgendwas zwischen dreißig und vierzig, ihre Haut ist glatt, ohne eine einzige Falte, bemerkt Nelly, von ihrer Erscheinung fasziniert. Sie hat ein blasses Gesicht mit hohen Wangenknochen, eine wohlgeformte Nase, zwei unglaublich grüne Augen und einen Mund, der aussieht wie eine Wunde. Das hellbraune, straff zurückgekämmte Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt einen schwarzen Pulli und einen grauen Rock mit schwarzen Streifen, ihr Gesicht ist vollkommen ausdruckslos. Das muss die zweite Schwester sein, Maria Grazia – Magraja? Selbst in dieser Aufmachung ist sie die Schönste der ganzen Familie. Die anderen sind alle irgendwie grobschlächtig, vulgär, aber sie ...
»Was möchtet ihr trinken? Tee? Kaffee? Es ist alles fertig, ich bring’s euch. Und für dich, Alceo«, der Anflug eines vielleicht ironischen, vielleicht resignierten Lächelns huscht über ihre Züge, »gibt es Port, wenn du willst.« Alceo nickt, die anderen entscheiden sich für Tee oder Kaffee, und sie verschwindet wie eine Komparsin von der Bühne. Nelly wirft Sandra einen fragenden Blick zu, den diese übersieht. Unterdessen hat Marilena sie bei der Hand genommen und neben sich auf das Sofa gezogen, nachdem sie dem farblosen, spinnenbeinigen Kerl mit einer unmissverständlichen Geste zu verstehen gegeben hat, er möge sich verkrümeln. Er gehorcht und beugt sich leicht zu Nelly herunter, um sich vorzustellen: »Romeo Pizzi. Ich bin ... der Mann meiner Frau«, fügt er ironisch lächelnd hinzu, derweil Marilena ihm mit einem genervten Schnauben zuzischt: »Und dafür kannst du dem Himmel danken.« Als hätte er die ätzende Bemerkung nicht gehört, trollt er sich und verschwindet durch dieselbe Tür wie Maria Grazia. Inzwischen fragt sich Nelly, was sie eigentlich in diesem Käfig voller Narren verloren hat. Vielleicht hätte sie besser zu Hause bleiben und Schubladen aufräumen sollen. Pflichtschuldig und mit noch immer abwesendem Blick drückt Alice ihre schluchzende Tochter an sich.
»Mein Mann war ein anständiger Mensch. Niemand kann etwas gegen ihn gehabt haben, er war ein redlicher Mann.«
Alceo schnauft und zündet sich eine Zigarette an.
»Der übliche Schwachsinn. Hin und wieder macht sich ein Mann Feinde. Und ein Anwalt erst recht. Redlich – was für ein Quark. Du weißt ganz genau, dass dein Mann ein nervtötender Kotzbrocken war, noch unerträglicher als ich. Damit will ich nicht sagen, dass jemand mit ihm abgerechnet hat.« Mit einer ungehaltenen Geste hindert er Sandra daran, ihn zu unterbrechen. »Doch dieses Gegreine geht mir auf die Eier. Nur weil einer stirbt, wird er deshalb nicht zum besseren Menschen, oder? Im Gegenteil, er fängt an zu stinken.« Der berühmte Regisseur feixt in die verstörte Runde. Es ist offensichtlich, dass diese Auftritte zum Repertoire gehören und er es genießt, seine Umwelt zu schockieren oder zumindest vor den Kopf zu stoßen. Nelly fällt auf, dass sie gar keine Fragen zu stellen braucht, die Antworten kommen von ganz allein. Diesmal fühlt sich Giancarlo, der Sohn des Verstorbenen, dazu berufen, einzuschreiten. Um das väterliche Andenken zu schützen? Weit gefehlt.
»Ich bin ganz deiner Meinung, Onkel. Papa wusste, wie man sich Feinde macht.« Oh, oh, jetzt wird’s interessant. »Und in mancher Hinsicht war er ein richtiges Schwein.« Die Schwester springt auf,
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